Die Magie des Widerstands: Nerdkultur und ihre politischen Dimensionen
Mit „Nerd Girl Magic“ hat Simoné Goldschmidt-Lechner ein beeindruckendes Sachbuch über Pop- und Subkultur als Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse geschrieben. Aber ist es hier und da zu nerdy?
„Nerd alert!“ Wenn Menschen sich mit bestimmten Themen besonders gut, geradezu obsessiv gut auskennen und sich daran machen, dazu einen kleinen Vortrag oder Fun Fact feilzubieten, ist „Nerd alert!“ eine häufig gehörte, oft selbstironisch gemeinte Warnung. Auf Deutsch lässt sich der Ausdruck vielleicht mit „Streberalarm!“ übersetzen.
Auf einen Blick und Klick: Sailor Moon und GamerGate // Fiktion schafft Wirklichkeit // Im Sturm der Informationen // Die Welt ändern
Gleichzeitig greift das zu kurz. Das englische (und mittlerweile eingedeutschte) „Nerd“ steht für weit mehr als das vor allem in Bildungszusammenhängen gebräuchliche „Streber*in“. Während die Wörterbuchseite leo.org auch wenig schmeichelhafte Übersetzungen des Begriffes aufführt, findet sich als Erklärung im Duden, fast schon als Kompliment lesbar: „Jemand, der für ein spezielles Fachgebiet besonders großes Interesse zeigt und viel Zeit damit verbringt.“
Sailor Moon und GamerGate
Das gilt wohl auch für die Autorin und Übersetzerin Simoné Goldschmidt-Lechner. Ihr Sachbuch Nerd Girl Magic erschien jüngst im Berliner Verbrecher Verlag und ließe sich mit „Nerd alert!“ vielleicht nicht originell, aber doch treffend anmoderieren. Bereits nach dem ersten Kapitel, es geht um die Anime-Serie Sailor Moon, ist klar, dass sich hier jemand wirklich auszukennen und den mannigfaltigen Themen des Buches viel Zeit gewidmet zu haben scheint.
Mit welchen Themen Nerd Girl Magic aufwartet, sehen Leser*innen dank des ausführlichen Inhaltsverzeichnisses schnell. Es geht unter anderem um Debatten zu Kulturprodukten wie Game of Thrones, Harry Potter und Buffy the Vampire Slayer, um Genres wie Fantasy, Science-Fiction und Dark Academia, um koreanische Popmusik, um Videospiele wie Disco Elysium, das bis heute nachwirkende „GamerGate“ oder um (Frauen-)Wrestling als erzählerische Wunderwelt.
Goldschmidt-Lechner macht auf weniger als 200 Seiten viele Fässer auf, das aber sehr souverän. Wie sie etliche Kulturprodukte verschiedener Sparten samt ihrer Themen und Figuren in Beziehung zueinander setzt und die sie prägenden Kontroversen kommentierend referiert, ist beeindruckend.
Um als Leser*in dabei nicht den Überblick zu verlieren, hilft auch das Begriffsregister. Dank ihm und dem Inhaltsverzeichnis kann Nerd Girl Magic leicht als Nachschlagewerk für pop- und subkulturelle Recherchen genutzt werden. Vor allem, wenn man wissen möchte, warum bestimmte Werke (und ihre Autor*innen) umstritten sind, inwiefern etwa Game of Thrones, eine der erfolgreichsten TV-Serien überhaupt, durch Sexismus und Rassismus geprägt ist.
Fiktion schafft Wirklichkeit
Der Untertitel von Nerd Girl Magic ist aufschlussreich und lautet Fandom aus marginalisierter Perspektive. Er hätte sich auch auf dem Cover gut gemacht, fehlt dort aber leider. Marginalisiert ist die Perspektive, aus der Goldschmidt-Lechner hier stellvertretend für viele andere schreibt, weil sie als nicht-weiße (und queere) Frau übers Nerdsein und damit zusammenhängende Themen spricht.
Über Dinge also, die lange Zeit vor allem mit weißen, heterosexuellen Männern in Verbindung gebracht wurden und bei denen solche gern glauben, auf ewig im Besitz der Deutungshoheit zu sein. „Es ist an der Zeit, das Bild des Nerds neu zu denken!“, steht im Werbetext für Nerd Girl Magic. In der Tat leistet das Buch einen wertvollen Beitrag dazu.
Das liegt auch daran, dass Goldschmidt-Lechner insbesondere die Frage in den Blick nimmt, inwiefern fiktionale Stoffe Potentiale zur Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse in sich tragen, schon durch das bloße Aufzeigen von Alternativwelten. Gerade hier werden die politischen Dimensionen und Widerständigkeiten der Nerdkultur sichtbar, tun sich Konfliktfelder zwischen Fan-Gruppen auf. So verändere sich etwa die Pen-&-Paper-Szene, weil „Spieler*innen die Diskurse zu Diskriminierungsstrukturen der echten Welt immer mehr in die Spielewelt übertragen.“
Sich selbst als „Teil des erzählten Widerstands“ zu begreifen, könne Empowerment bedeuten, schreibt Goldschmidt-Lechner. Vielleicht liegt gerade darin die im Buchtitel genannte Magie des (nicht-männlichen) Nerdseins, in den wirklichkeitsverändernden Potentialen popkultureller Erzählungen. Aus Schwarzer Perspektive könne Science-Fiction ein „radikal utopischer, selbstermächtigender und überwindender Akt“ sein. Sich die Menschheit der Zukunft vorzustellen, sei immer politisch und „durchzogen von eigenen Idealen und Wünschen unter Rückbesinnung auf unsere Gegenwart.“
Im Sturm der Informationen
Bei allem Lob ist allerdings auch anzumerken, dass es Nerd Girl Magic seinen Leser*innen teils einfacher machen könnte, ihm sprachlich und damit inhaltlich zu folgen. Wenn es im Buch etwa um die Peter-Jackson-Verfilmung von Lord of the Rings und die Beziehung der Figuren Aragorn und Legolas zueinander geht, findet sich dort ein Satz, der nicht nur wegen seiner Verschachtelung herausfordert, sondern auch begrifflich:
„Die cis-männlichen Herr der Ringe-Puristen störten sich also daran, dass eine Änderung zum Ursprungswerk vorgenommen worden war (mehr Frauen in tragenden Rollen), während die (cis-)weiblichen Fans mit diesem Argument eine toxische Fandom-Eigenheit kaschierten, alle weiblichen Love Interests, die einem männlich geshippten Pairing im Weg stehen könnten, in einem negativen Licht zu sehen.“
Um solche Sätze auch als Laie gänzlich verstehen zu können, braucht es Vorwissen, das das Buch nicht immer ausreichend bereitstellt. Zuweilen drängt sich beim Lesen die Frage auf, für wen Nerd Girl Magic geschrieben ist. Andere Nerds und „Nerd Girls“, wie Simoné Goldschmidt-Lechner sich selbst nennt, dürften sofort Zugang zum Buch finden und Sätze wie den obigen leicht verdauen können.
Laien aber, die in Buchhandlungen zufällig auf das Buch stoßen, fühlen sich womöglich eher abgeschreckt vom Informationssturm, den Nerd Girl Magic auf vielen Seiten bietet. Es ist ein anspruchsvolles Buch, in Teilen der Wissenschaftsprosa zuneigend, versetzt mit jugendsprachlichen Codes und Anglizismen. Die Art und Weise, wie Goldschmidt-Lechner übers Nerdsein schreibt, wirkt mitunter selbst nerdy. Stellenweise mag es etwas zu nerdy sein. Vom cuten, mit Sailor-Moon-Symbolik spielenden Cover-Motiv, das nichtsdestotrotz zum Buch passt, könnten sich manche Leser*innen in die Irre führen lassen.
Die Welt ändern
Als Fazit bleibt: Wer sich vom sprachlichen Anspruch nicht abschrecken lässt, erhält mit Nerd Girl Magic nicht nur eine reflektierte Liebeserklärung ans Nerdsein aus marginalisierter Warte, sondern auch ein beeindruckend breit informiertes Sachbuch, das gleichsam in die Tiefe geht und mit manch kulturgeschichtlicher Anekdote glänzt.
Dank des Buches weiß ich jetzt zum Beispiel, dass Nichelle Nichols ihre Rolle als Schwarze Offizierin Nyota Uhura in der Serie Star Trek erst aufgeben wollte, wegen der Misogynie des Star-Trek-Schöpfers Gene Roddenberry, dann aber von niemand geringerem als Martin Luther King Jr. überzeugt wurde, zu bleiben.
Nichols hat damit die Welt verändert, zumindest ein Stück weit. Und das will auch Simoné Goldschmidt-Lechner, zusammen mit anderen Nerd Girls, schreibt sie im Epilog von Nerd Girl Magic. Hoffentlich gelingt es. ◆
Simoné Goldschmidt-Lechner: Nerd Girl Magic, Verbrecher Verlag, Berlin, 2025.
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Oliver Pöttgen (er/ihm) fragt sich, bei welchen Themen er als Nerd gelten könnte und inwiefern diese Themen gesellschaftsverändernde Potentiale in sich tragen.
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