Die Heldin, die wir brauchen: Poison Ivy
In Zeiten der Klimakrise und Queerfeindlichkeit ist Poison Ivy eine der wichtigsten Superheld*innen. Über eine aufblühende Figur, deren Geschichte endlich eine Frau schreibt.
Wie Pflanzen wachsen auch Comic-Figuren nur unter den richtigen Bedingungen. Poison Ivys Verwandlung von einer sexualisierten Femme Fatale hin zu einer queeren, radikal umweltpolitischen Ikone zeigt, wie sich der Comic-Mainstream in den letzten 60 Jahren verändert hat – und das manche Charaktere Jahrzehnte brauchen, um aufzublühen.
Auf einen Blick und Klick: Mörderische Männerfantasie // Zum ersten Mal von einer Frau // Lesbisches Traumpaar // Klimakrise und Öko-Terrorismus
Meine erste Begegnung mit der Figur Poison Ivy (wörtlich: Giftefeu) war – wie für viele andere Mittdreißiger*innen vermutlich auch – der Kinofilm Batman & Robin von 1997. In einer Schlüsselszene stellt die Botanikerin Dr. Pamela Isley, gespielt von Uma Thurman, ihren Kollegen wegen unethischer Experimente zur Rede. Als der daraufhin versucht, sie mit toxischen Chemikalien zu töten, verwandelt sie sich in die verführerische Poison Ivy. Anstelle einer absurd riesigen Brille und eines Laborkittels trägt ihr Alter Ego jetzt ein zerrissenes Trägertop und eine kurze, mit Efeu bedeckte Hose. Sie räkelt sich, als sei sie gerade aus einem langen Schlaf aufgewacht. Im Hintergrund läuft leiser Saxophon-Jazz.
„I am Mother Nature.“
In ihrer neuen Gestalt tritt sie auf den Mann zu, der gerade noch versucht hat, sie umzubringen. Sie küsst ihn und flüstert ihm die Worte ins Ohr, die vermutlich sieben Jahre später Britney Spears Song Toxic inspiriert haben: „I probably should have mentioned this earlier. I’m poison.“ Andere wichtige Zitate von ihr im Film sind „As I told Lady Freeze when I pulled her plug, this is a one woman show“ und die zugegebenermaßen ganz guten Zeilen „I am Nature's arm. Her spirit. Her will. Hell, I am Mother Nature.“ Es gibt Vieles, was ich an diesem knallbunten Fiebertraum von einem Film mag. Mit der Darstellung von Poison Ivy hat er der Figur aber keinen Gefallen getan.
Batman & Robin trägt allerdings nicht die alleinige Schuld daran, dass viele Dr. Pamela Isley vorwiegend als mörderische Männerfantasie kennen. Bei ihrem ersten Comic-Auftritt 1966 gibt sie sich aus reiner Eifersucht freiwillig als Kriminelle zu erkennen. Sie ist attraktiv, unberechenbar und sucht immer die Aufmerksamkeit von Männern. Comic-Redakteur Carmine Infantino gibt später zu, dass die Figur primär entstanden sei, weil Catwoman in der Batman-Serie aus den 60er-Jahren so beliebt war. „They wanted more female villains“, erklärt er in einem Interview.
Optisch basierte Poison Ivy damals auf dem Pin-Up-Model Bettie Page. Im Comic-Mainstream der 50er- bis 90er-Jahre war es nicht unüblich, sich an existierenden Prominenten zu orientieren. Antiheldin Big Barda, die etwa zur selben Zeit wie Poison Ivy entstand, sieht nicht zufällig so aus wie die Schauspielerin Lainie Kazan, und Marvel wurde in den frühen 90er-Jahren verklagt, weil das Cover von Doctor Strange: Sorcerer Supreme #15 fast eins zu eins einem Foto von der Musikerin Amy Grant entspricht. Seitdem ist man ein wenig vorsichtiger.
Blumen statt glücklicher Kindheit
Andere Inspirationen für die giftige Antiheldin sind vermutlich die von Kritiker Nino Frank als „Film Noir“ betitelten Krimis und Thriller der 40er-Jahre, die eine allgemein wichtige Quelle für die Ästhetik und Erzählart der Batman-Welt sind. Frauen wirken in diesen Geschichten oft hilflos, stellen sich aber gegen Ende meist als verräterisch, mörderisch oder manipulativ heraus – als Femme Fatale eben.
Konzeptuell orientiert sich Poison Ivy aller Wahrscheinlichkeit nach an Nathaniel Hawthornes Kurzgeschichte Rappaccini’s Daughter (1844). Darin verliebt sich der Protagonist von weitem in eine Frau, die halb Mensch, halb giftige Pflanze ist. Um sie unbeschadet berühren zu können, braut er ihr einen Trank, der sie heilen soll. Doch als sie ihn trinkt, bemerkt sie, dass Gift für sie ein überlebenswichtiger Bestandteil geworden ist und Gegengift entsprechend tödliche Folgen für sie hätte.
Besonders spürbar sind die Einflüsse von Hawthorne und dem Film-Noir-Genre in Poison Ivys erster eigenständiger Geschichte. In Secret Origins #36 von 1988 versuchen sich Mark Buckingham und Sandman-Autor Neil Gaiman daran, die Figur und ihre Motive näher zu umreißen. Wie bei Rappaccini’s Daughter beobachtet der männliche Protagonist sie von weitem. Mithilfe von Kameras und persönlichen Interviews soll er herausfinden, ob die neue Gefängnis-Insassin geeignet für ein staatlich geführtes, paramilitärisches Team ist. Mit voyeuristischer Faszination nähert er sich der unschuldig wirkenden Frau, zu der er sich schon von Beginn an hingezogen fühlt. „Flowers were what I had instead of a happy childhood“, erzählt sie ihm.
Schon bald ist er besessen. In der Hoffnung, sie besser kennenzulernen, bringt er sie in den Gefängnisgarten. Hier wendet sich wortwörtlich das Blatt, als sie die Gewächse nutzt, um ihre Kräfte zu entfalten. Es wird klar, dass sie alles geplant hatte. Die Kameras in ihrer Zelle und die Geschichten aus ihrer Kindheit waren Mittel, um ihn zu verführen. Als sich der Protagonist in Wurzeln eingewickelt findet, ist es fast zu spät. Nur die Gefängnispolizei kann Schlimmeres verhindern. Auf den letzten Bildern schreibt er seinen Bericht zu Ende. Auf seiner Wange ist ein eingebrannter Abdruck ihres Kusses.
Zum ersten Mal von einer Frau geschrieben – nach 50 Jahren männlicher Autorschaft
Es ist eine ungeschriebene Regel, dass beliebte Bösewicht*innen in Mainstream-Comics früher oder später zu Held*innen werden. Viele Charaktere, die Kinobesucher*innen als Teil des Superheld*innen-Teams „Avengers“ kennen, haben in den Comics einmal als Gegenspieler*innen angefangen, wie etwa Black Widow, Scarlett Witch und Quicksilver. Geschäftlich macht das Sinn. Bemerkt ein Unternehmen die Beliebtheit einer seiner Figuren, wird es mehr Geschichten über sie herausgeben. In rein bösartige Charaktere können sich Leser*innen schlechter hineinversetzen. Also schreibt man sie ein wenig sympathischer. Motivationen werden erklärt, ehemalige Bösartigkeiten relativiert oder bereut.
Bei Poison Ivy kam dieser Wendepunkt in den 2010er-Jahren. Aufgebaut auf sachten umweltpolitischen Tönen in der Batman-Zeichentrickserie der 90er, träumt sie 2011 in Detective Comics #23 von einem anarchistischen Reich aus Pflanzen. Im Arkham Knight-Videospiel von 2015 hilft sie Batman dabei, die Stadt zu retten, und 2016 schließlich wird sie die Heldin ihrer ersten eigenen Comic-Reihe. Cycle of Life and Death zeigt eine ganz neue Pamela Isley. Im Mittelpunkt stehen ihre Arbeit als Wissenschaftlerin, ihre enge Freundschaft zu Ex-Bösewichtin Harley Quinn, die Geburt von zwei Pflanzen-Babies und eine Mord-Serie.
Die Reihe ist zwar auch nicht ganz frei von den für die Zeit üblichen, sexualisierenden Hintern-Nahaufnahmen, aber von der narzisstischen, machthungrigen und eifersüchtigen Bösewichtin früherer Jahre, die nach der Aufmerksamkeit von Männern strebt, ist kaum noch etwas zu sehen. Statt mit tödlichen Küssen bringt Poison Ivy ihre Gegner nun bloß noch mit sanften Berührungen zum Schweigen. Einen Kuss gibt es nur zwischen zwei gewaltbereiten Bikern. Als sie die Botanikerin angreifen wollen, zückt diese zur Verteidigung ein Pheromonen-Spray, das die Biker stattdessen zum Knutschen bringt. Es fällt auf, dass die Figur nach fünf Jahrzehnten zum ersten Mal von einer Frau geschrieben wird.
Endlich offen queer
Poison Ivys aktuelles Wachstumsstadium beginnt ebenfalls mit einem Kuss. In der 47. Folge von der schon erwähnten Zeichentrickserie Batman aus den frühen 90ern freundet sie sich mit der Bösewichtin und Partnerin des Jokers an – mit Harley Quinn. In einem Interview zu der Folge vergleicht Joker-Synchronsprecher und Luke-Skywalker-Schauspieler Mark Hamill die Beziehung der beiden mit Thelma und Louise aus dem gleichnamigen Film von 1991. Der Vergleich passt. Wie bei Thelma und Louise auch, ließen sich schon damals die lesbischen Untertöne nicht leugnen. Im Comic-Heft Bombshells #42 küssen sich die beiden ehemaligen Comic-Bösewichtinnen zum ersten Mal.
Das Ganze spielt in einem Parallel-Universum, in dem sich drei weitere queere Paare bilden und für das die GLAAD-Autorin (Gay & Lesbian Alliance Against Defamation) Marguerite Bennet mehrfach für Medienpreise nominiert wurde. Endgültig besiegelt wurde die Beziehung dann in der Comic-Reihe Harley Quinn, etwa zeitgleich mit dem Erscheinen von Cycle of Life and Death. Nach vielen gemeinsamen Urlauben, Duschen und ausgetauschten Blicken, küssen sie sich zum ersten Mal offiziell – nicht in einem Parallel-Universum, Traum oder Werbematerial, sondern im Haupt-Universum der Geschichte, also quasi „in echt“. Aus der jahrelang queergecodeten Beziehung ist endlich eine offen queere geworden.
Mittlerweile schmücken Ivy und Harley fast jedes Cover der jährlichen Juni-Pride-Ausgabe von DC Comics, in der LGBTQIA+-Comic-Charaktere gefeiert werden. Sie sind nicht nur ein lesbisches Paar, sie sind das lesbische Paar. Ende der zweiten Staffel der Harley Quinn-Zeichentrickserie gestehen die beiden auch in dieser Realität ihre Liebe zueinander. Die zugehörige Comic-Reihe The Eat. BANG! Kill. Tour fokussiert sich vollständig auf ihre Beziehung. Es gibt kaum mehr einen Harley-Quinn-Comic ohne Ivy und kaum einen Poison-Ivy-Comic ohne Harley.
Aufblühen in der Klimakrise
Die neue Version von Dr. Pamela Isley ist teils trotz, teils wegen der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen herangewachsen. Nach viel Druck und einem allgemeinen Stimmungswechsel reagiert die Mainstream-Kultur auf den sehr offensichtlichen Wunsch nach queeren Inhalten. Die aktuelle Comic-Reihe Poison Ivy von Ms. Marvel-Miterfinderin Willow Wilson war ursprünglich als Sechs-Hefte-Miniserie zum Pride Month 2022 geplant, ist inzwischen aber auf über 20 Hefte angewachsen. Die moderne Farbgebung, der politische Ton und der retro-apokalyptische (Body-)Horror gemischt mit lieblichen Blumenmustern zeigen Poison Ivy endlich in ihrer finalen Form: mächtig, wütend und queer.
Wilson hat zudem verstanden, dass Poison Ivy aktuell die Figur ist, die unsere Angst, Wut und Trauer über die Klimakrise vereint; handelt es sich dabei doch um eines der zentralen Themen des 21. Jahrhunderts, wenn nicht um das zentrale Thema schlechthin. „[Superhero comics] are such a cool time capsule“, erklärt sie in einem Interview. Weil diese Charaktere schon seit Jahrzehnten existieren, spiegeln sie das wider, was viele in der jeweiligen Zeit am meisten beschäftigt hat. In den 40er-Jahren ging es um den Zweiten Weltkrieg. Da musste Captain America Hitler schlagen. Heute geht es um den menschengemachten Klimawandel und seine katastrophalen Folgen. Poison Ivys Öko-Terrorismus, der sich etwa im Angriff auf naturvernichtende Großunternehmen zeigt, scheint vor dem Hintergrund menschlicher Zerstörung fast verständlich.
Dass sie einmal eine neurotische Femme Fatale war, haben manche völlig vergessen. Sogar ihr anfangs erwähnter Auftritt im Batman & Robin-Film wird neu bewertet. „She was regrowing the forests. And they wanted us to root for the trust fund billionaire“, schreibt jemand auf X. Das Blatt hat sich offenbar gewendet. ◆
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Zum Autor
Jonas Lübkert (er/ihm) beschäftigt sich kulturjournalistisch mit Superheld*innen. Neben seinem Newsletter Fan Theory of Everything schreibt er auch für das Online-Feuilleton 54books und den fluter.
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