Vom Mut, sich zu outen: „Boys Run the Riot“ und Transsein in Mangas
„Boys Run the Riot“ von Keito Gaku gehört zu den wenigen Mangas, die alltagsnah aus dem Leben von trans Menschen erzählen. Eine Einordnung, zum Transgender Day of Visibility.
Mit Boys Run the Riot von Keito Gaku ist 2022 eine Manga-Reihe auf Deutsch erschienen, die gekonnt lebensnah einen Einblick in den Alltag eines japanischen trans Jugendlichen gibt. Noch immer herrschen auch bei uns viele Vorurteile vor, wenn es um das Leben von trans Menschen geht. Ein so erfolgreiches Medium wie Manga, in dem die Themenvielfalt schier grenzenlos und die Altersspanne der Leser*innen mittlerweile sehr breit ist, kann viele Menschen erreichen, die mit dem Thema Transidentität noch nicht vertraut sind.
Boys Run the Riot wurde 2022 beim Erscheinen des ersten ins Deutsche übersetzten Bandes von mehreren großen Plattformen sehr positiv besprochen — trotz des kommerziell enorm erfolgreichen deutschen Mangamarkts ist solch eine breite Aufmerksamkeit immer noch eher unüblich. Bald erscheint auch der vierte und damit bisher letzte Band des 2020 in Japan veröffentlichten Mangas auf Deutsch. Das und der heutige Transgender Day of Visibility, bei dem es um die öffentliche Sichtbarkeit von trans Menschen und ihre Lebenswirklichkeiten geht, bieten Anlass, noch einmal hervorzuheben, was Boys Run the Riot so besonders macht.
Kleidung als Ausdruck von Identität
In der Slice-of-Life-Geschichte geht es um den trans Jungen Ryo, der gemeinsam mit dem rebellischen neuen Mitschüler Jin das titelgebende Independent Modelabel „Boys Run the Riot“ gründet und sich mit selbstgestalteter Mode als Ausdrucksform der eigenen Identität gegen die Konventionen der japanischen Gesellschaft auflehnt. Während Jin durch seine lässige Kleidung und Piercings aus der Reihe fällt, trägt Ryo in der Schule meistens den Schulsport-Trainingsanzug, um der eigentlich für ihn vorgeschriebenen Schuluniform für Mädchen zu entgehen. Soziale Kontakte bereiten ihm Schwierigkeiten, da ihn die cis Jungen in seiner Klasse als Mädchen wahrnehmen und sich von ihm distanzieren, um Beziehungsgerüchte zu vermeiden. Aber auch in der Gruppe der Mädchen findet Ryo aufgrund seiner abweichenden Interessen keinen richtigen Anschluss mehr.
In einem Pop-Up-Store eines Modelabels entdecken Ryo und Jin ihre gemeinsame Vorliebe für ungewöhnliche Kleidung. Vorurteilsfrei möchte Jin zusammen mit Ryo ein eigenes kleines Label gründen und selbst gestaltete T-Shirts online verkaufen. Ryo wiederum fasst zum ersten Mal in seinem Leben Mut und Vertrauen, um sich Jin gegenüber als trans Junge zu outen. Der Dialog, der sich hier zwischen beiden entspinnt, zeigt die große Stärke von Boys Run the Riot: Das Miteinander, das gegenseitige Verständnis und der respektvolle, offene und lernwillige Umgang untereinander wirken oft wie direkt aus dem Leben gegriffen.
Ryo und Jin werden Freunde und erweitern ihre Gruppe um neue Mitstreiter*innen. Langsam fassen sie mit ihrem Label Fuß und knüpfen erste professionelle Geschäftskontakte. Im Laufe der Geschichte werden weitere wichtige Aspekte des Transseins thematisiert, wie etwa das sensible Thema des Zwangsoutings, das unerwünschte und ungefragte Geoutet-werden durch andere Personen, und der Umgang mit queeren Menschen in den sozialen Medien Japans. Neben den Schwierigkeiten, die Ryo mit seiner Transidentität meistern muss, stößt auch der unkonventionelle Wunsch, ein professionelles Modelabel zu etablieren, bei den Erwachsenen auf viel Unverständnis.
Manga eines trans Autors
Der Autor Keito Gaku ist selbst ein trans Mann und erzählt in Boys Run the Riot immer wieder vom Mut, sich zu outen und zu sich und den eigenen Wünschen und Träumen zu stehen. Von Akzeptanz und neu gewonnenen Freiheiten und Anerkennung, aber auch vom Unverständnis und sozialen Ausschluss, den trans Personen im Alltag und durch die eigene Familie erfahren. Kleidung als wichtiger Ausdruck von Identität wird von Keito Gaku betont in den Fokus gerückt. Dabei bleibt die Mode, die er seine Protagonisten entwerfen lässt, überraschend alltagstauglich. Durch Graffiti-Kunst und durchdachte Platzierungen spielt Ryo mit befreienden Statements, die auch Außenseiter*innen Respekt und einen Platz in Japans Gesellschaft verschaffen sollen.
Die japanische Sprache bietet, anders als die deutsche oder englische, weitere Möglichkeiten, der eigenen Geschlechtsidentität Ausdruck zu verleihen. So benutzt Ryo im japanischen Original männliche Formen der Selbstbezeichnung, um von sich selbst zu sprechen. Die US-amerikanische Ausgabe der Reihe ist hier sehr aufschlussreich, da sie sorgfältige Anmerkungen zu Kontexten und zur Übersetzung liefert, die in der deutschen Ausgabe leider fehlen.
Insgesamt beleuchtet die Geschichte einen eher kurzen Zeitraum im Leben der beiden Freunde: Wir begleiten das kleine Modelabel in seiner Gründungs- und Anfangszeit und erleben nur einen kleinen Ausschnitt aus Ryos Leben und seinem Kampf zwischen Anpassung an soziale Normen und dem radikalen Wunsch, ganz er selbst sein zu dürfen. Dank der realistischen Darstellung einer queeren japanischen Jugend ist Boys Run the Riot trotz seiner Ausschnitthaftigkeit eines der besten neueren Werke zum Thema Transsein.
Es mangelt an Lebensrealitäten von trans Menschen in Mangas und Anime
Dies wirft die Frage auf, warum es so wenige Manga- und Anime-Erzählungen gibt, in denen trans Realitäten lebensnah dargestellt werden. Der deutsche Manga- und Anime-Markt bietet bereits seit Jahren eine ganze Reihe an Themen und Charakteren, die sich dem queeren Spektrum zuordnen lassen. Der kommerziell erfolgreiche Boys-Love-Sektor, der schwule Liebesgeschichten für erwachsene Frauen bereithält, boomt ebenso wie die Wiederveröffentlichungen von Klassikern, die bereits vor über 40 Jahren das Spiel mit verschiedenen Geschlechtern auf die Spitze trieben.
Gerade erst ist eine Neubearbeitung der deutschen Fassung des Comedy-Klassikers Ranma 1/2 (1987-1996) von Rumiko Takahashi erschienen, in dem der Junge Ranma durch Kontakt mit kaltem Wasser in ein Mädchen verwandelt wird. Und auch Die Rosen von Versailles aus dem Jahr 1979, hierzulande bekannt unter dem Titel Lady Oscar, wurde kürzlich erstmals mit der japanischen Original-Synchronisation veröffentlicht. Hier beschützt eine Frau, die als Junge unter dem Namen Oscar großgezogen wurde, als General die Königin Marie Antoinette am Hof von Versailles. Die noch immer erfolgreiche und beliebte Serie Sailor Moon enthält eine Vielzahl an genderqueeren Figuren in homosexuellen Beziehungen, mal voller Eleganz und Coolness, mal verspielt und durch und durch camp.
Obwohl sich diese Charaktere in fantastischen und historischen Reihen auch in Japan großer Beliebtheit erfreuen, bleibt das Leben von LGBTQIA-Personen in realistischen Geschichten kaum thematisiert und nur vergleichsweise wenige Mangas schaffen es überhaupt auch auf den deutschen oder englischsprachigen Markt.
Noch seltener sind trans Personen die Hauptprotagonist*innen, meist bleiben sie Nebenfiguren, deren Geschlechtsidentität oft im Vagen belassen wird. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die Figur der Isabella Yamamoto aus der Manga-Reihe Paradise Kiss (2000-2003) von Ai Yazawa. Isabella ist eine elegante, fürsorgliche trans Frau aus einer wohlhabenden Familie, die sich der studentischen Gruppe des Modelabels „Paradise Kiss“ anschließt und als eine Art Mutter die Gruppe zusammenhält. Sie wird heute eindeutig als trans Frau bezeichnet. Vor 20 Jahren, als die Reihe erschien, blieb ihre Identität noch weniger eindeutig. „Isabella is my favorite anime character. I love her. Thanks to her I was confident enough to come out as trans as well.“, kommentiert eine YouTube-Nutzerin diesen Ausschnitt mit Isabella Yamamoto aus der Anime-Version von Paradise Kiss:
Während die Student*innen in Paradise Kiss an der Modeschule in Tokyo in Sachen Kleidung große Freiheiten genießen, muss sich Ryo in Boys Run the Riot noch den Kleidervorschriften der japanischen Highschool und ihren binären Zuteilungen unterordnen. Auch abseits von queeren Kontexten spielt ausgefallene Mode als Ausdruck der eigenen Identität in der japanischen Gesellschaft eine wichtige Rolle, die vor allem in der kurzen Uni-Zeit zwischen Schule und Berufswelt freier ausgelebt werden kann.
Manga-Autor Shuzo Oshimi hat das Thema Geschlechtsidentität bereits mehrfach aufgegriffen und in seinen Reihen Inside Mari (2012-2016) und Welcome Back, Alice (2020) verarbeitet. Oshimi wird bei allem Lob allerdings auch dafür kritisiert, die trans bzw. nicht-binären Identitäten seiner Protagonist*innen nicht konkret genug zu benennen und — im Falle von Welcome back, Alice — diese auch als zu übergriffig und negativ darzustellen.
Selten Thema: geschlechtsangleichende Maßnahmen
In seinem Anime-Film Tokyo Godfathers (2003) thematisiert Satoshi Kon anhand der Geschichte der obdachlosen Hana, eine trans Frau und frühere Drag-Queen, auf realistische Weise die intersektionalen Zusammenhänge zwischen Transsein und drohender Obdachlosigkeit und greift darüber hinaus das Thema queere Wahlfamilien auf. Auch Hana, eine bereits etwas ältere trans Frau, agiert auf mütterliche Weise für die Gruppe von Außenseiter*innen. Aufgrund des Alters der deutschen und englischsprachigen Veröffentlichungen lassen die Übersetzungen und Untertitel zu Tokyo Godfathers leider nicht nur einige Nuancen in den japanischen Bezeichnungen aus, sie verwenden zudem transmisogyne Begriffe, für die heute hoffentlich mehr Sensibilität existiert. Der Film hätte eine Neuveröffentlichung und -übersetzung verdient.
Bemerkenswert ist bei allen genannten Beispielen, dass das Thema der geschlechtsangleichenden Maßnahmen selten bis keine Erwähnung findet. Wir sehen, wie Ryo in Boys Run the Riot einen improvisierten Binder verwendet, um seine Brüste zu kaschieren, sonst aber wird weder über Hormone noch über angleichende Operationen gesprochen.
Nötigung durch die Gesellschaft
Für Aufruhr und für ein ernüchterndes Innehalten und Verstehen, wie das Leben von trans Personen in Japan außerhalb von fantastischen Welten im wirklichen Leben aussieht, sorgte vor kurzem ein Beitrag auf Twitter. Darin geht es um die äußere Erscheinung und das Geschlecht der Figur Yamato in der beliebten Piraten-Fantasy-Serie One Piece (seit 1997) von Eiichirô Oda. Auf die Frage, warum der trans Mann Yamato so freizügig und mit großen Brüsten dargestellt werde, folgte eine ausführliche Erklärung, dass trans Menschen in Japan für eine legale rechtliche Anerkennung ihres Geschlechts zahlreiche ihrer Rechte und Freiheiten aufgeben müssen. Dazu gehört unter anderem die Zwangssterilisation, wie sie bis 2011 auch in Deutschland noch gesetzlich vorgesehen war, damit trans Menschen ihr bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht ändern können.
Japanische trans Menschen dürfen zum Zeitpunkt ihrer Transition nicht schwanger sein und dürfen keine Kinder unter 18 Jahren haben. Eine bestehende Ehe muss geschieden werden, sie dürfen nicht wieder heiraten. Sie müssen sich, laut dem Twitter-Nutzer, „allen angleichenden Operationen“ unterziehen, was generell eine sehr diffuse Sachlage verdeutlicht, denn „die eine geschlechtsangleichende Operation“ gibt es schlicht und ergreifend nicht. Jede Operation, die eine trans Person zu mehr Wohlbefinden im eigenen Körper vornehmen lässt, ist eine geschlechtsangleichende. Trans Menschen in Japan werden laut dem Twitter-Nutzer gesellschaftlich geradezu genötigt, sich auf eine traditionelle, binäre Weise in ihrem gewählten Geschlecht zu präsentieren. Der Kontext, in dem zufriedene, selbstsichere trans Charaktere ohne traditionelles Passing in Mangas und Anime gezeigt werden, darf daher nicht außer Acht gelassen werden.
Repräsentation ist wichtig
Die deutschen Manga-Verlage haben ein sehr diverses Lesepublikum und öffnen sich thematisch immer weiter, wodurch zunehmend auch weniger bekannte Serien zeitnah zu einer Übersetzung kommen. Eine so sorgfältige redaktionelle Begleitung, wie sie Boys Run the Riot in den USA erfahren durfte, wäre auch für Deutschland wünschenswert. Für eine größere und schnellere Sichtbarkeit wäre es zudem wichtig, dass vor allem queere Medien, aber auch andere Plattformen, die wenigen LGBTQIA-Titel im Manga-Bereich viel öfter bei Erscheinen besprechen und ihre Relevanz so einzuordnen wüssten, wie es bei Boys Run the Riot geschah. Denn nach wie vor und gerade heute zum Transgender Day of Visibility gilt: Representation matters!
Und wer, ganz in diesem Sinne, nach Boys Run the Riot mehr zum Thema Transsein lesen mag, kann das zum Beispiel mit der Manga-Autobiografie Yunas Reise zum Ich – My sex change experience (2016) von Yuna Hirasawa tun. ◆
Keito Gaku: Boys Run the Riot (vier Bände), Kodansha, Tokyo, 2020. Die deutsche Übersetzung erscheint seit 2022 bei CARLSEN.
Tags: Manga und Anime // Comics // Literatur
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Zur Autorin
Alex Bachler (sie/ihr) ist Buchhändlerin und Literaturvermittlerin mit einer Vorliebe für ostasiatische Literatur und Mangas.
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