Künstliches Herz und echtes Ich
Kazuo Ishiguros Roman „Klara und die Sonne“ ist eine wunderbare Erzählung über Liebe aus Sicht einer Künstlichen Intelligenz – verfehlt allerdings die entscheidende Erkenntnis. Von Melanie Krause.
Lässt sich ein geliebter Mensch vollständig durch ein künstliches Wesen ersetzen? Kann die Beziehung zu einem Roboter einen Menschen genauso glücklich machen wie die zu einem Menschen? Klara ist eine KF, eine Künstliche Freundin, und soll genau das leisten. Sie ist ein mit Künstlicher Intelligenz (KI) und Persönlichkeit ausgestatteter Roboter, der einer Teenagerin eine Art beste Freundin sein soll. Klara ist glücklich, als ihre Wunschbesitzerin Josie, oder vielmehr deren Mutter, sie aussucht und in ihr Zuhause mitnimmt, wo sie Josie möglichst gut kennenlernen soll.
Das Ziel ist jedoch nicht nur, wie vom Hersteller vorgesehen, ihr eine besonders gute Freundin zu sein – sondern sie voll und ganz zu ersetzen. Denn Josie ist krank und wird vielleicht sterben, bevor sie das Erwachsenenalter erreicht, und ihre Mutter hofft, dann an Stelle ihrer Menschentochter deren künstliche Freundin lieben zu können. Klara ist nicht so konfiguriert, dass sie an diesem Plan etwas auszusetzen haben könnte, doch da ihr oberstes Ziel Josies Wohlergehen ist, unternimmt sie Anstrengungen, um das Mädchen zu retten: Sie schließt einen Pakt mit der Sonne höchstpersönlich, damit diese Josie heilen möge.
Was Menschen einzigartig macht
Hier soll es jedoch nicht darum gehen, ob Künstliche Intelligenzen zu Aberglaube und magischem Denken fähig sind, und auch nicht darum, ob sie klüger sein können als Menschen, ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein. Hier soll es darum gehen, worin die Einzigartigkeit eines Menschen besteht.
„Glaubst du an das menschliche Herz, Klara? Ich meine natürlich nicht einfach das Organ, sondern spreche im poetischen Sinn. Das Herz des Menschen. Glaubst du, dass es so etwas gibt? Etwas, das jedes Individuum besonders und einmalig macht?“
Josies Vater stellt Klara diese Fragen in der Hoffnung, sie, die Nichtmenschliche, könnte über eine tiefere Einsicht verfügen. In der neuen Zeit, die der Roman skizziert, gilt Einzigartigkeit zunächst nur als Bündel von Eigenschaften. Wenn man den Gang, die Stimme und alle Erinnerungen einer Person kopiert, hat man im Grunde dieselbe Person vor sich. So glaubt der Schöpfer der Ersatzjosie, Mr. Capaldi, so hofft die Mutter und so fürchtet der Vater. Klara selbst schwant am Ende, dass es nicht die gesammelten Eigenschaften sind, die das Besondere einer Person ausmachen.
„Mr. Capaldi glaubte, es gebe nichts Besonderes in Josies Innerem, das sich nicht fortsetzen ließe. … Aber ich glaube jetzt, er hat am falschen Ort gesucht. Es gab nämlich sehr wohl etwas sehr Besonderes, aber nicht in Josie. Es war in denen, die sie geliebt haben.“
Klara sagt dies lange nach ihrer Zeit mit Josie, als sie bereits ausgemustert ist und auf ihr Verlöschen wartet, und der Roman präsentiert diese Erkenntnis als die eigentliche Moral und als die Antwort auf die Frage nach der Ersetzbarkeit. Doch so klug er an vielen Stellen ist, verfehlt er hier doch, und das nehme ich ihm ein bisschen übel, den eigentlichen Punkt.
Der Witz an menschlichen Beziehungen, gerade und vor allem der Liebe, besteht ja eben darin, dass sie weder allein im Herzen der einen noch allein im Herzen der anderen stattfindet, sondern in beiden. Die Anderen sind mehr als nur Teile meiner Umwelt. Sie bedienen nicht bloß irgendwelche Reize, auf die ich dann mit bestimmten Gefühlen reagiere, deshalb reicht es nicht aus, einfach die Eigenschaften (die Reizauslöser) einer geliebten Person zu kopieren, um die sie Liebenden glücklich zu machen. Genauso wenig sind die geliebten Personen aber nur in meinem Herzen.
Auf vliestext geht es um Kultur und so. Folgen kann man unter @vliestext auf Twitter, Instagram und per Newsletter:
Das Besondere an einer Person ist ja genau das, was der Roman ihr Herz nennt. Das Problem ist, dass es Josies Herz nicht mehr geben wird, wenn sie tot ist, egal, wie ähnlich man sie nachbaut. Einzigartigkeit ist vor allem auf der Ich-Ebene gegeben. Wenn ich heute verschwinde und irgendwo aus gesammelten Daten über mich eine Nachbildung erstellt wird, dann bin es nicht mehr ich, die, die jetzt fühlt und wahrnimmt.
Die Josie, die bis zu ihrem Tod das Zimmer bewohnt haben würde, die Klara ausgesucht hat und ihre Kindheit mit dem Nachbarsjungen Rick verlebt, die wäre auf immer fort. Diese Josie würde die andauernde Liebe ihrer Mutter nicht mehr spüren. Die josiegewordene Klara wäre, auch wenn sie funktional ins kleinste Detail nachgebildet wäre, nicht mehr dieselbe, denn Josies Bewusstsein wäre fort und durch ein anderes Bewusstsein ersetzt.
Dass ich ich bin
Vielleicht ist das das Einzige, was Menschen „einzigartig“ macht: unser Wissen, unsere Erfahrungen, alle unsere Eigenschaften, auch unser kreatives Potenzial oder dieses irgendwie magische Moment, wenn man sich in jemand Unwahrscheinlichen verliebt. All das, was uns nach außen hin unterscheidbar von anderen macht, das mag theoretisch und eines Tages auch praktisch vollständig kopier- und nachbildbar sein. Was uns jedoch nach innen hin unterscheidbar macht, ist die Instanz, von der ich jetzt weiß: Das bin ich. Das Wissen, dass ich ich bin und nicht du. Und dieses Wissen ist nicht kopier- oder übertragbar. Im Moment des Todes einer Person ist es einfach weg.
Diese Innen-Außen-Grenze mag auch mit Drogen, schamanischen Verschmelzungsritualen oder dem Upload des eigenen Bewusstseins in eine Maschine grundsätzlich auflösbar oder verschiebbar sein. Doch wenn sie eben nicht aufgelöst und das Bewusstsein aus der Form, vielleicht: dem Käfig, des tragenden Gehirns nicht befreit und irgendwo anders hingeleitet wird, dann ist es weg.
Und letztlich weiß auch Josies Mutter im Roman das. Andernfalls wäre die Entscheidung, eine Nachbildung für ihre Tochter zu bauen, gar nicht so schwer. Wenn wir aus dem Solipsismus (der Idee, dass nur das eigene Ich existiert) irgendwie ausbrechen wollen, dann müssen wir aufhören, andere als Bündel von Eigenschaften zu sehen. Die sind ebensolche Bewusstseine wie wir. Liebe erfüllt gerade wegen dieser unendlichen Rückkopplung: Ich fühle, und du weißt, dass ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß, … dass ich fühle. Was Josies Mutter bekäme, wäre ein Faksimile, das ihr erlerntes Reiz-Reaktions-Schema bedient, aber sie wüsste die ganze Zeit, dass ihre Liebe nicht mehr in demselben Herzen ankommt in dem sie früher angekommen ist.
Insofern ist auch Klaras Begründung nicht hinreichend, warum sie niemals ganz Josie hätte werden können: Josies Ichbewusstsein liegt ja nicht in den Herzen der anderen. Dort liegt allenfalls das Wissen darum, dass es sich bei Klarajosie nicht um Originaljosie handelt, und alle ihre Liebesbekundungen die ursprüngliche Josie niemals erreichen werden, denn die ist verloschen.
Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne, aus dem Englischen von Barbara Schaden, Blessing, München, 2021.
Auf vliestext geht es um Kultur und so. Folgen kann man unter @vliestext auf Twitter, Instagram und per Newsletter:
Zur Autorin
Melanie Krause (sie/ihr) ist vor allem Philosophin und schreibt über Feminismus, Technikethik, das gute Leben und ihre Verwunderung über die Welt im Allgemeinen und Besonderen.
Mehr von der Autorin auf vliestext
Sitzen kostet Der physische öffentliche Raum wird immer noch zu sehr von den Bedürfnissen erwachsener Männer her gedacht. Ein Beispiel dafür sind WC-Häuschen.