Polit-Satire und Sci-Fi-Fantasy: Die Serie „I’m A Virgo“ wirft Konventionen über Bord
Wild und frisch erzählt Boots Rileys „I’m A Virgo“ davon, was es heißt, heute in den USA jung und Schwarz zu sein. Im schrägen Genre-Mix glänzt Jharrel Jerome als vier Meter große Hauptfigur.
Das (weiße) Privileg, einfach unbehelligt und auf Wunsch auch unerkannt sein Leben zu leben, hat man als Schwarzer Mann in Amerika eher nicht, wie nicht nur Nachrichtenmeldungen aus den USA immer wieder schmerzlich vor Augen führen. Man stelle sich also vor, wie es wohl erst einem Schwarzen Mann ergeht, der es obendrein auf eine Körpergröße von fast 4 Metern bringt.
Cootie (Jharrel Jerome), der Protagonist der bei Prime Video verfügbaren Serie I’m A Virgo, war schon bei seiner Geburt riesig, weswegen ihn seine Tante und sein Onkel (Carmen Ejogo und Mike Epps), in deren Obhut er aufwächst, von Beginn an vor der Öffentlichkeit abschirmen. Einblicke in den Alltag draußen vermitteln ihm lediglich Fernsehsendungen und -werbung sowie Comic-Hefte, ansonsten wächst er behütet im eigens erbauten, überdimensionierten Gartenhaus auf. Doch mit der Pubertät wächst die Einsamkeit ebenso wie die Neugier, immer häufiger beobachtet er heimlich durch die Hecke die Nachbarschaft. Als ihn irgendwann ein Mann von nebenan entdeckt und statt erschrocken eher ungemein freundlich und hilfsbereit reagiert, setzt sich Cootie mutig über die Warnungen seiner Ersatz-Eltern hinweg und traut sich hinein in die Welt.
Schnell findet er Anschluss an eine Clique, die ihm Nachhilfe erteilt in allem, womit junge Menschen so ihre Zeit verbringen: mit Auto-Crack Felix (Brett Gray), dem lebensfrohen Kiffer Scat (Allius Barnes) und der kommunistisch-engagierten Aktivistin Jones (Kara Young) cruist er durch Oakland und geht feiern, lernt die Freuden hart wummernder Bässe kennen und besucht auch endlich jene Fast-Food-Kette, deren Werbespots ihm schon seit Jahren das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Dass die Burger dort dann nicht annähernd so gut schmecken wie erträumt, wird schnell zur Nebensache, weil die selbstbewusste Angestellte Flora (Olivia Washington) ein Auge auf ihn wirft.
Öffentlichkeit und Medien sind zunächst einmal fasziniert vom freundlich-naiven Riesen, der staunend eine neue Erfahrung nach der nächsten sammelt. Doch je mehr soziale Zwänge und Kämpfe sowie echte Tragik in seinen Alltag Einzug halten, desto mehr verschiebt sich nicht nur der Blick der anderen, sondern auch Cooties eigener. Und ausgerechnet der von ihm verehrte Comic-Autor und Milliardär Jay Whittle (Walton Goggins), der sich selbst zum Superhelden aufgeschwungen hat und durch die Bay Area fliegend die eigenen Werte- und Gerechtigkeitsvorstellungen durchsetzen will, wird zum gefährlichen Gegenspieler.
Ungestüm, wild und frisch
Klingt nach ziemlich viel Stoff für gerade einmal sieben knapp halbstündige Folgen? Ist es auch – die Ideen- und Themenvielfalt ist in I’m A Virgo Programm. Regisseur und Autor Boots Riley, sonst auch als Rapper und Aktivist tätig, hatte schon bei seinem Regiedebüt Sorry to Bother You, das es tragischerweise nie in die deutschen Kinos schaffte, kein Interesse daran, seinen überbordenden Einfallsreichtum irgendwie zu zügeln und fährt damit auch dieses Mal gut. Nicht jede Idee ist dabei voll ausgereift, und Subtilität liegt ebenso wenig wie makellose Perfektion im Interesse Rileys. Aber dafür ist eben auch Langeweile ein Fremdwort für ihn.
So ungestüm, so wild, so frisch hat selten jemand davon erzählt, was es heißt, in den USA Schwarz und jung und damit ausgebeutet wie angefeindet zu sein. Wobei sich I’m A Virgo längst nicht nur auf die männliche Perspektive beschränkt, sondern vor allem Flora und Jones (die womöglich ein Alter Ego des selbsternannten Kommunisten Riley ist) als facettenreiche Figuren ausgestaltet.
Auch sonst werden Beschränkungen und Konventionen über Bord geworfen, stehen Furz-Witze neben elaborierter Kapitalismus-Kritik und vermengen sich Polit-Satire und absurde Sci-Fi-Fantasy zu einer schrägen Mischung, die viel zu sagen hat über profitorientierte Krankenhäuser, diskriminierende Mietstrukturen und andere systemimmanente Ungerechtigkeiten. Ganz zu schweigen davon, dass die Serie die mit Sicherheit ungewöhnlichste Sex-Szene des Jahres zu bieten hat – und allein das einmal mehr umwerfende Spiel von Jharrel Jerome, bekannt aus Moonlight und für When They See Us mit dem Emmy ausgezeichnet, das Einschalten wert ist. ◆
I’m A Virgo. Besetzung: Jharrel Jerome, Olivia Washington, Brett Gray u. a.; Regie: Boots Riley; Amazon Studios, 2023.
Tags: Film und Serie
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Zum Autor
Patrick Heidmann (er/ihm) schreibt über Serien und Filme für ZEIT ONLINE, taz, queer.de und andere, berichtet von Filmfestivals und interviewt regelmäßig Schauspieler*innen und Regisseur*innen. Allen, die sich ebenfalls von I’m A Virgo begeistern lassen, legt er dringend ans Herz, sich auch Boots Rileys Spielfilm Sorry to Bother You mit LaKeith Stanfield und Tessa Thompson anzusehen.
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