Wenn ein Videospiel zu Tränen rührt
Liebevoll und werknah erweckt das Videospiel „Snufkin: Melody of Moominvalley“ Tove Janssons drollige Welt der Mumins zum Leben – und erzählt vom Widerstand gegen Autoritäten. Von Tim Lorenz.
Tove Janssons wunderbarer Kosmos um die kleine, in einem idyllischen Tal lebende Mumin-Familie samt all ihrer Freund*innen und Bekannten hat hierzulande leider — sei es in Roman- oder Bilderbuch-Form, als Comic, Puppenfilm oder Anime-Serie — immer ein eher stiefmütterliches Dasein geführt. Zwar gab es vereinzelte Versuche, etwa durch die Augsburger Puppenkiste, die 1959 den bereits 1945 erschienenen Roman Mumins lange Reise adaptierte. Richtig Fuß fassen konnte die drollige Gesellschaft in Deutschland, im Gegensatz zu den skandinavischen Ländern, aber auch England und vor allem Japan, jedoch kaum.
Das ist mehr als schade. Denn die vermeintlichen Kindergeschichten um den kleinen Mumintroll und seine Eltern, seine Freundin Snorkfräulein und all die anderen Geschöpfe des Mumintals sind nicht nur lustig und spannend, sondern immer auch von einer freigeistigen Moral und tiefem Pazifismus beseelt. Nicht verwunderlich, schrieb die Finnin Jansson, die bereits seit 1955 in einer lesbischen Beziehung lebte, zu einer Zeit also, als ein solches Lebensmodell nicht nur in Finnland noch illegal war, die erste Mumin-Geschichte doch schon während des Zweiten Weltkriegs. Und das merkt man der bedrohlichen Handlung um Mumin und seiner Mutter, die den verschollenen Vater suchen, auch mehr als an.
Übrigens hatten die zu dieser Zeit noch unbenannten Mumintrolle ihre Premiere schon vor dem ersten Buch in antifaschistischen Karikaturen, die Jansson in den 40er-Jahren für das satirische Magazin GARM zeichnete, für das sie seit 1929 arbeitete.
Für Deutschland zu avantgardistisch?
Neben ihrem Pazifismus, der Betonung der Wichtigkeit von Freundschaft und Zusammenhalt, sind weitere wichtige Botschaften der Mumin-Geschichten die der Naturverbundenheit sowie des Nonkonformismus, des Hinterfragens von Regeln statt bloßen Befolgens. Unerwähnt bleiben soll aber auch nicht der so simple wie pointierte Zeichenstil Janssons (und später ihres Bruders Lars), der die vielschichtigen Geschichten auf kongeniale Weise ergänzt, sei es in den aquarell-farbigen Bilderbüchern oder den seit 1952 erschienenen schwarz-weißen Comic-Strips. Ein Stil mit einem so einfachen wie klaren Strich, dass er auch als Gegenentwurf zu Hergés Ligne clair gesehen werden könnte.
So funktionieren die drolligen Mumin-Geschichten also stets auf mehreren Ebenen. Einmal als aufregende Abenteuer-Geschichten für Kinder, denen dabei subtil jedoch auch eine durchaus als subversiv anzusehende Moral nähergebracht wird. Und in dieser Doppelbödigkeit sind sie dann auch für Erwachsene interessant. Und vielleicht war es ja gerade dieser verspielt-subversive Charakter der Mumin-Geschichten, der sie im Deutschland der 50er-, 60er- und 70er-Jahre eher zu avantgardistisch erscheinen ließ. Das würde auch erklären, warum die Geschichten hierzulande eher schleppend verlegt wurden und entsprechend unbekannt blieben.
Schnupferich, der Freigeist
Doch seit einigen Jahren passiert nun glücklicherweise auch in Deutschland einiges an der Mumin-Front. Der Reprodukt Verlag hat Janssons Comics in einer vorbildlichen, mehrbändigen Ausgabe herausgebracht. Nach und nach erscheinen alle Romane und Bilderbücher auf Deutsch. Seit 2020 läuft die sehr gelungene neue finnisch-britische Animations-Serie Moominvalley (deutscher Titel: Mumintal) auf KiKA. Anfang 2024 veröffentlichte der Westdeutsche Rundfunk eine sechsteilige Hörspielserie basierend auf den ersten beiden Romanen Mumins lange Reise und Komet im Mumintal. Und schließlich erschien vor kurzem, nach einigen eher lustlosen Versuchen auf mobilen Plattformen, das Videospiel Snufkin: Melody of Moominvalley (deutscher Titel: Schnupferich: Die Melodie des Mumintals), um das es hier gehen soll.
Denn tatsächlich handelt es sich dabei um eine so liebevolle wie werknahe Umsetzung des Mumin-Kosmos, wie es sie bisher nicht gegeben hat. Mit einer Aquarell-Grafik, die sich mehr an Janssons Bilderbuch-Illustrationen denn den Comic-Strips orientiert, wird das Mumintal kongenial zum Leben erweckt. Und auch die Geschichte, neu geschrieben, zu Teilen jedoch inspiriert vom Buch Sturm im Mumintal, bleibt Janssons Linie treu.
Protagonist ist dabei clevererweise kein Mitglied der Trollfamilie selbst, sondern der wohl geheimnisvollste Charakter des Mumin-Kosmos: Schnupferich, der beste Freund Mumins, ein menschenähnlicher Troll. Ein Autoritäten ablehnender, Musik-liebender Freigeist, der Frühjahr, Sommer und Herbst stets im Mumintal verbringt, sich dann, wenn sich die Mumins in ihren Winterschlaf begeben, verzieht (keine*r weiß, wohin), bevor er im nächsten Frühjahr wieder erscheint.
So auch zu Beginn des Spiels — nur ist dieses Mal alles anders. Das Mumintal liegt brach, die Flüsse führen kein Wasser mehr, die Natur ist verdorrt. Zudem ist Mumin, mit dem Schnupferich sich ja wie immer treffen wollte, verschwunden. Die Suche nach Mumin bildet nun den Hauptteil des auf Entdecken und Erkunden ausgelegten Spiels. Eine Suche, die Schnupferich durchs gesamte Mumintal und darüber hinaus bis zur tropischen Insel der unheimlichen Hatifnatten und zurück führt.
Dabei trifft er all die skurrilen Charaktere aus Janssons Welt. Angefangen bei den Mumin-Eltern und der frechen kleinen Mü bis zu dem wieselähnlichen Schnüferl und Tooticki, einer guten Freundin der Mumin-Familie von jungenhaftem Look — eine Figur, die Tove Jansson nach ihrer lebenslangen Partnerin Tuulikki Pietilä erschaffen hat. Auch eher unbekannte Bewohner*innen der Mumin-Welt, wie der seine geliebte Fitzel suchende Knütt, das unsichtbare Mädchen Ninna, Frau Fillifjonk oder die überaus nervigen Waldkinder kommen nicht zu kurz. Alle haben kleine Aufgaben für Schnupferich, teils wichtig für die Handlung, teils reine Abwechslung.
Stealth und Metroidvania
Das Gameplay ist dabei eine Mischung aus einfachen Hüpfpassagen und abwechslungsreichen Minispielen. Der Grund für die Dürre im Mumintal ist nämlich ein ominöser Parkwächter, der überall im Tal mit Verbotsschildern gespickte, von trotteligen Polizisten bewachte Parks anlegen lässt, die der Natur ihre Ressourcen entziehen. Das ist dem antiautoritären Schnupferich natürlich ein Dorn im Auge. Und so entspinnt sich eine Art Stealth-Spiel, bei dem er, ohne von den Polizisten entdeckt zu werden, alle Verbotsschilder im Park entfernen muss, um die Polizisten zu verscheuchen und den Naturzustand wiederherzustellen.
Doch das ist — in diversen Variationen, die dafür sorgen, dass es nie langweilig wird — nur ein Aspekt des Gameplays. Daneben gilt es kleine Gegenstands-Rätsel zu lösen, zahlreiche Winkel auf der geschickt angeordneten Weltkarte zu erkunden sowie Sammel-Quests zu erfüllen, die jedoch dadurch, dass sie fest in die Geschichte integriert sind, niemals in Langeweile oder Überdruss ausarten. So muss man etwa die vom Wind im ganzen Tal verteilten Seiten des von Mumin Papa, dem Oberhaupt der Mumin-Familie, verfassten Theaterstücks „Die Melodie des Mumintals“ zusammensuchen, das im späteren Verlauf der Geschichte noch wichtig wird.
Schnupferichs Hilfsmittel sind dabei seine Musikinstrumente, die er durch in der Natur gesammelte Inspiration hochlevelt. Zu Anfang ist es nur seine Mundharmonika, mit deren Melodien er die Geschöpfe des Mumintals bezaubert. Später kommen noch Flöte und Trommel dazu, durch deren Einsatz er in bester Metroidvania-Manier Hindernisse beseitigt und so immer mehr versteckte Ecken der Weltkarte freischaltet. Oder sagen wir besser „entdeckt“, das passt eher zum Charakter des Spiels.
Musik von Sigur Rós und ein heilsames Finale
Atmosphärisch untermalt von der so spärlich instrumentierten wie effektiv eingesetzten Musik der isländischen Indie-Band Sigur Rós entsteht so ein Gameloop, der die Spieler*innen von Anfang bis Ende des circa fünf- bis sechsstündigen Abenteuers bei Laune hält. Dabei ist das Spiel nie überaus schwierig, eher im Gegenteil. Aber zum einen steht hier ohnehin mehr die Story als die spielerische Herausforderung im Mittelpunkt.
Und zum anderen steht das Prinzip, niemanden durch einen hohen Schwierigkeitsgrad ausgrenzen zu wollen, auch für die Wholesomeness des Spiels, die perfekt mit Tove Janssons Philosophie harmoniert. Denn auch, wenn Wesen wie die eiskalte Morra zuerst unheimlich und gefährlich erscheinen, entpuppen sie sich im Verlauf der Geschichte dann doch als hilfreich und freundlich. Niemand ist im eigentlichen Sinne böse, alle haben Motive für ihr jeweiliges Verhalten. Selbst der Antagonist des Spiels, der von Regeln besessene Parkwächter, will eigentlich nur das Schöne, bloß eben auf die falsche Art.
Und so kommt es am Ende zu einem mehr als heilsamen Finale, das alle versöhnt und mich zumindest, untermalt von Sigur Rós’ wunderbar melancholischem Titelsong, mit Tränen der Rührung entließ. Chapeau! Und als Tipp: Nicht den Abspann wegdrücken, denn jede noch so kleine Nebengeschichte findet hier ihr Closing. Wholesomeness pur. ◆
Hyper Games (Entwickler), Raw Fury (Verlag): Snufkin: Melody of Moominvalley (deutscher Titel: Schnupferich: Die Melodie des Mumintals), 2024, erschienen für Nintendo Switch und Steam.
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Zum Autor
Tim Lorenz (er/ihm) ist seit fast 30 Jahren DJ im Golden Pudel Club/Hamburg, spielt seit fast 20 Jahren in der Band von Andreas Dorau und hat über Videospiele und Musik schon für Magazine wie De-Bug, Groove, Rolling Stone und Musikexpress geschrieben. In den Genuss zusätzlicher Prominenz kommt er durch seine Ehe mit der Autorin Sarah Lorenz, die ebenfalls viel mit den Mumins anfangen kann.
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