Blick ins Alter: Onkologische Tageskliniken als Orte der Zeitreise
Ich habe eine Krebstherapie begonnen und versuche mich hier an einer Art Tagebuch darüber. Es geht um Gedanken zur Behandlung, zu Krankenhausaufenthalten und Krebs im Allgemeinen.

Vor einiger Zeit wurde bei mir chronisch-lymphatische Leukämie (CLL) festgestellt. Nachdem sich meine Blutwerte verschlechterten und Lymphknoten vor allem im Halsbereich weiter anschwollen, habe ich im Januar 2022 eine Chemotherapie begonnen.
Als eine Art Tagebuch begleitet diese Text-Sammlung die Therapie – zumindest solange, wie ich das für eine gute Idee halte. Es geht um Eindrücke von der Behandlung, Gedanken zum Thema Krebs und Aufenthalte im Krankenhaus. Orts- und Personennamen werden nicht genannt, alles ist anonymisiert. Jeder Eintrag ins Tagebuch ist ein eigener Post. Bisher gibt es:
Januar 2022
Tagesklinik; es stellt sich eine gewisse Routine in den Abläufen ein: zu wissen, dass ich den Antikörper Obinutuzumab mittlerweile ganz gut vertrage, schafft Sicherheit und erleichtert das Warten auf die manchmal erst gegen Mittag verfügbare Infusion; bald kommt noch das zweite Hauptmedikament Venetoclax hinzu; der Name erinnert an Figuren bei Asterix – los, Venetoclax, schlag den Krebs.
Blick ins Alter
Neben Warten und Urinieren – wichtig, um den Schrott zerstörter Krebszellen aus dem Körper zu spülen – scheint eine weitere Schlüsselfähigkeit für Aufenthalte in onkologischen Tageskliniken (zumindest in dieser) zu sein, Gespräche anderer Leute ausblenden zu können.
Vieles von dem, was sich Patient*innen untereinander oder dem medizinischen Personal erzählen, bräuchte eine Inhalts- oder Triggerwarnung, wie sie auf sozialen Netzwerken wie Twitter teils üblich ist. In den großen Krankenzimmern liegen und sitzen sich mitunter sechs, sieben Menschen gegenüber; manche sind den ganzen Tag da. Nahezu jedes Wort, jedes Stöhnen und manchmal auch jeder Schmerzenslaut ist zu hören.
Sicher, alle hier haben eine Form der – sehr vielgestaltigen – Krankheit Krebs und sich damit auseinandergesetzt, viele Gedanken sind vertraut. Nicht jede*r möchte jedoch alles über den Darmkrebs im Bett nebenan oder vermutete Fehldiagnosen wissen, die dem Krankenhaus der Nachbarstadt vorgeworfen werden.
An meinem ersten Tag, ich hatte mich zuvor wegen des Antikörpers erbrochen, schloss eine etwas hypochondrisch wirkende Patientin den detailreichen Einblick in ihre Krankheitsgeschichte mit: „Tja, ist der Krebs erst einmal im Körper, kriegst du ihn nicht wieder raus.“ Medizinisch mag das nicht haltbar sein, hören will ich es dort aber trotzdem nicht unbedingt. Ohropax oder gute Kopfhörer sind dann viel wert.
Blick ins Früher
Hinzu kommt, dass ich mit Anfang 40 zu den jüngeren Patient*innen zähle. Die meisten, die zur selben Zeit in der Tagesklinik sind, sind wesentlich älter und oft gebrechlich, einige werden von Sanitäter*innen gebracht, wieder abgeholt und, so nehme ich an, in Pflegeheime zurückgefahren. Die Krankenzimmer wirken auf mich oft wie Fenster ins Alter, wie ein Vorspulen in eine mögliche Zukunft, in den eigenen, vielleicht sehr beschwerlichen Lebensabend. Das Ende des Therapietages ist auch deswegen willkommen, weil sich dieses Fenster dann wieder schließt.
Dieses Mal ging noch ein anderes Fenster auf, ein angenehmeres, eines in die Vergangenheit: Ich habe früher, vor der Krebsdiagnose, regelmäßig Thrombozyten gespendet. Thrombozyten (Blutplättchen) werden auch in Krebstherapien eingesetzt und als ein Mitpatient Infusionsbeutel mit der markant gelblichen Flüssigkeit bekam, führte mir das vor Augen, wie früher auch meine Thrombozyten geholfen haben könnten. Das so direkt noch einmal erfahren zu können, ist schön. ◆
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