Kapitalismus ist kein Naturgesetz
In Freiburg stellten Simon Sahner und Daniel Stähr ihr Sachbuch „Die Sprache des Kapitalismus“ vor. Das Gespräch war so hörens- wie das Buch lesenswert ist, hatte aber eine Leerstelle.
Zu den interessantesten Themen auf Lesungen mag gehören, wenn sich Autor*innen zur Rezeption äußern, die ihr Buch erfahren hat. Simon Sahner und Daniel Stähr, die vergangene Woche im Freiburger Verein Kulturaggregat ihr Sachbuch Die Sprache des Kapitalismus vorstellten, können hier mit einer ganz besonderen Perle aufwarten. Ein „Manifest im Schafspelz“ habe jemand ihr Buch genannt, sagt der Kultur- und Literaturwissenschaftler Sahner.
Diese Zuschreibung ist einprägsam – und durchaus als Kompliment lesbar –, wird dem Buch aber nicht gerecht. Vielmehr macht sie wieder einmal deutlich, dass für manche per se jede Form (sprach)kritischer Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus ideologische Ziele zu haben scheint. Das im März 2024 erschienene Die Sprache des Kapitalismus ist kein Manifest, sondern ein umsichtig und reflektiert geschriebenes Sachbuch, das wohl auch gerade deswegen für den diesjährigen Wirtschaftsbuchpreis nominiert ist. Wie Ideologen wirken Sahner und der Ökonom Stähr in Freiburg ganz und gar nicht.
Unsichtbare Hände und steigende Preise
Ihr Buch beschäftigt sich, auf beeindruckend breit informierte Weise, mit solchen Fragen: Inwiefern ist Sprache durch kapitalistisches Denken geprägt und Ausdruck kapitalistisch geformter Machtverhältnisse, die durch Sprache auch immer wieder reproduziert werden? Wie trägt Sprache dazu bei, diese Macht-, Profit- und Verantwortungszusammenhänge zu verschleiern und Kapitalismus als Naturgesetz erscheinen zu lassen, zu dem es keine Alternative gäbe? Wie lässt sich anders von sozioökonomischen Verhältnissen erzählen, damit eine Zukunft jenseits des die Welt verzehrenden Kapitalismus, man denke an die Klimakrise, vorstellbar wird?
„Wir alle sprechen die Sprache des Kapitalismus, erzählen seine Geschichten und merken es teilweise nicht einmal“, schreiben Sahner und Stähr. Sie untersuchen Metaphern wie „Die Unsichtbare Hand des Marktes“, Phrasen wie „die Preise steigen“ und Mythen und Narrative wie die „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ oder vom „Grünen Wachstum“. Ebenso geht es um die Herkunft von Begriffen. Besonders interessant ist hier das verdreht wirkende Begriffspaar „Arbeitgeber/Arbeitnehmer“ (wer gibt und wer nimmt wirklich?), das auch in der Freiburger Lesung Thema ist und seinen Ursprung in Denkmustern und Machtstrukturen des Feudalismus habe.
Kritik an Wirtschaftswissenschaft
Lesung und Buch veranschaulichen, wie produktiv eine Zusammenarbeit zwischen Kulturwissenschaft und Ökonomie sein kann. Nicht zuletzt, weil so die Wirtschaftswissenschaft, die weltweit für gewöhnlich auf einem Podest der Bewunderung steht, einem kritischen Blick aus anderer Perspektive unterzogen wird. Zudem ist Daniel Stähr auf der Bühne sehr gut darin, seiner Begeisterung fürs Fach eine reflektierte Distanz und ein Bewusstsein für dessen Probleme beizumischen.
Die Sprache des Kapitalismus ist auch ein Buch über die ideellen Prämissen der Wirtschaftslehre, insbesondere der Volkswirtschaftslehre. „Jede ökonomische Denkschule braucht eine Ideologie, die ihren modelltheoretischen Ansatz rechtfertigt“, heißt es im Buch. Und weiter: „Hinter den Sprachbildern und Metaphern von Ökonom*innen, Politiker*innen und Unternehmer*innen stehen immer auch ideologische Entscheidungen.“ Angesichts solch erfrischender Deutlichkeit, die auch den Abend in Freiburg bereichert, wundert es nicht, dass sich manche wohl vom Buch angegriffen fühlen und ein Manifest wittern.
Wenn dann noch mit Gendersternchen geschlechterinklusiv formuliert wird, ist der Vorwurf, dass Die Sprache des Kapitalismus „ideologisch“ sei, wie Sahner berichtet, natürlich nicht weit. „Progressives Denken und Erzählen braucht progressive Sprache“, schrieb ich über ein Sachbuch, das bei der sprachlichen Geschlechterinklusion weniger gut abschneidet. Dass es Die Sprache des Kapitalismus auch mit Gendersternchen auf die Shortlist des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises geschafft hat, ist daher umso erfreulicher. Die Sprache des Kapitalismus dürfte nämlich auch eine des generischen Maskulinums sein. Und das gilt es ebenso zu überwinden, wenn anders vom Kapitalismus erzählt werden soll.
Sind auch in der DDR „Preise gestiegen“?
Eine Sache allerdings hätte die ansonsten gelungene Veranstaltung im heimeligen Untergeschoss des Freiburger Kulturaggregats noch besser gemacht – stärkeres Nachhaken seitens der Moderatorin. Während es Martha Routen im Zusammenspiel mit Simon Sahner und Daniel Stähr gelang, dem zahlreich erschienenen Publikum einen vielfältigen Einblick in Die Sprache des Kapitalismus und seinen Entstehungshintergrund zu geben, hätten Routens Fragen hier und da mehr in die Tiefe gehen können.
Mit Blick auf eine Leerstelle des Buchs bietet sich etwa die – wenngleich auch von mir während der Fragerunde nicht gestellte – Frage an, inwiefern die Autoren untersucht haben, wie in nicht-kapitalistisch dominierten Gesellschaften über wirtschaftliche Vorgänge gesprochen wurde und wird. Als Kontrastfolie könnte das relevant für die Einschätzung sein, wie genuin kapitalistisch die Sprachmuster, die im Kapitalismus Anwendung finden, tatsächlich sind.
Um ein für die Argumentation im Buch wichtiges Beispiel aufzugreifen: War auch in der DDR die Rede davon, offiziell und umgangssprachlich, dass „Preise steigen“? Neben der Metapher von der „Unsichtbaren Hand des Marktes“ kommt besonders dieser Phrase im Buch die Rolle zu, die dem Kapitalismus zugeschriebene Naturgesetzlichkeit zu verdeutlichen. Preise steigen aber nicht von selbst, sondern werden von Menschen erhöht, von den jeweils beteiligten Akteur*innen des Marktes (und denen von ihnen geschaffenen Algorithmen).
Wie kapitalistisch ist die Sprache des Kapitalismus?
Die soziale Gemachtheit von Preiserhöhungen und dahinterstehenden Machtverhältnissen verschleiert man, ob bewusst oder unbewusst, wenn man davon spricht, dass „Preise steigen“. Das ist zweifellos ein wesentliches Merkmal der Sprache des Kapitalismus und es ist ein Verdienst der Autoren, das so kenntnisreich und lesenswert herauszuarbeiten.
Die Frage ist jedoch, inwiefern diese Verschleierung nicht auch ein Merkmal der Sprache des Sozialismus (gewesen) ist. Wenn Preise auch im Sprachgebrauch der sozialistisch organisierten DDR „gestiegen sind“, könnte manches an der Sprache des Kapitalismus ein Stück weit weniger genuin kapitalistisch sein, als es im Buch zuweilen scheint. ◆
Simon Sahner und Daniel Stähr: Die Sprache des Kapitalismus, S. Fischer, Frankfurt am Main, 2024.
Tags: Lesungen // Literatur // Sachbuch
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) fragt sich, ob geschlechterinklusive Sprache auch in den anderen Büchern der Shortlist des Deutschen Wirtschaftsbuchpreises zu finden ist.
Zur Transparenz: Oliver schreibt hin und wieder für das Online-Feuilleton 54books, für das auch Simon Sahner und Daniel Stähr tätig sind.
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