Gendernde Affen: Geschlechterinklusive Sprache in Sachbüchern
Warum das generische Maskulinum in progressiven Sachbüchern fehl am Platz ist. Gedanken zu „Erzählende Affen“ von Samira El Ouassil und Friedemann Karig.
Als Ganzes mag dieser Text nicht unbedingt wie eine Buchempfehlung wirken, er ist aber eine. Vielleicht eine mit Bauchschmerz. Das für den Sachbuchpreis 2022 nominierte Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen ist sehr lesenswert.
Auf einen Blick und Klick: Markt der Geschichten // Jesus und Black Panther // Neue Held*innen braucht die Welt // Ein-Wort-Geschichten
Seine Autor*innen Samira El Ouassil und Friedemann Karig analysieren außerordentlich kenntnisreich und dank vieler popkultureller Verweise sehr anschaulich, wie Erzählungen das Fühlen, Denken und Handeln von Individuen und Kollektiven bestimmen. Dass sie sich dabei vor allem auf Geschichten und Narrative westlichen Ursprungs konzentrieren, mutet manchmal eurozentrisch an, ist durch deren globale Wirkmacht aber nachvollziehbar.
Erzählungen werden hier als Teil „kultureller Gene“ verstanden, als Programmiercode, der sich in Menschen einspeisen lässt. Durch ihre übergeordneten Botschaften sind sie Vehikel für Werte und Versuche, dem Menschsein Sinn und Antworten darauf zu geben, was warum „richtig“ oder „falsch“ ist, was überhaupt „ist“. Erzählungen als Handlungsanweisung und Herrschaftstechnik, als Mittel des social engineering. Die Menschheitsgeschichte erscheint hier mitunter als eine große Märchenstunde, als wären Menschen nichts ohne ihre identitätsstiftenden Erzählungen. „Die unerträgliche Zufälligkeit des Seins kann der Mensch weniger gut aushalten als eine falsche, auch nur halb funktionierende Erklärung.“
Von „Märchen für Erwachsene“ schreiben die Autor*innen und meinen damit zum Beispiel die Meritokratie, also die Idee, dass sich „Leistung“ lohne und zu Wohlstand und beruflichem wie gesellschaftlichem Aufstieg führe. Für mich gehört der Abschnitt zu den stärksten des Buches: Gerade hier spürt man als Leser*in durch eigene Erfahrungen im Alltag, wie gesellschaftssteuernd und lebensbestimmend Erzählungen wirken, wie politikmächtig, wie manipulativ sie sein können.
Auf dem Markt der Geschichten
Daneben geht es u. a. um die Narrative des Kapitalismus, Rassismus und Faschismus, um Donald Trump und die Tiefengeschichte der USA (sowie Deutschlands vor 1933), um Religiöses, Incels, Monogamie oder darum, warum es schwierig ist, die alles in den Schatten stellende Klimakrise mittels vertrauter narrativer Schablonen zu erzählen. Es wird auch deutlich, wie sehr Erzählungen in Konkurrenz zueiander stehen können, wie sehr sie kollektive Selbsterzählungen sind, die auf Gegenerzählungen anderer Kollektive treffen. Die Menschheitsgeschichte als fortwährender Kampf von Narrativen. [1]
Dabei verliert sich Erzählende Affen nicht in narrativem Relativismus, sondern bezieht Stellung, macht deutlich, welche Erzählungen die Autor*innen bevorzugen und die Welt zu einem besseren Ort machen könnten. So schreiben El Ouassil und Karig auf Seite 353: „Unser verklärter, kaputter, suizidaler Status quo ist der eigentliche Nicht-Ort im Sinne einer Prätopie oder Egotopie: der Ort eines Ichs, das nur an sich denkt. Seine ausgesprochenen Bewahrer sind die sogenannten Konservativen, die man präziser ‚Destruktive‘ nennen sollte.“
Jesus und Black Panther
Ein weiterer Vorzug des Buchs ist das gleichberechtigte Nebeneinander von Geschichten aus verschiedenen kulturellen Millieus. Dafür sorgen auch die vorangestellten Kapitel über Handwerk und Theorie des (fiktionalen) Erzählens, wie es Literatur, Filme, Serien und Videospiele prägt. Hier geht es besonders um die „Heldenreise“, deren narratives Muster zum Beispiel an Filmreihen wie Herr der Ringe und Harry Potter aufgezeigt wird. Im Buch stehen Charaktere wie Mulan, Neo aus Matrix oder der Superheld Black Panther wie selbstverständlich neben Figuren wie Jesus oder Zeus. Dadurch wird Abstraktes greifbarer und religiöse oder antike Erzählungen erscheinen nicht als per se wertvoller oder „wahrer“ als andere.
Alles in allem ist es ein sehr stimulierend und beeindruckend informiert geschriebenes Buch, das nicht nur viel über Erzählungen, sondern auch über die Zeit zu sagen hat, in der wir leben. Es ist anschaulich, konstruktiv, besonders mit Blick auf dringend benötigte Narrative für die Klimakrise, und verbindet detaillierte Analyse mit progressiven Positionen. Eine Sache aber ist wenig progressiv und stört mich an Erzählende Affen sehr.
Die Mitgemeinten
Als ich vor einiger Zeit das Papierbuch in den Händen hielt und die Einleitung überflog, hat ein kurzer Abschnitt dafür gesorgt, dass ich es zunächst verwundert und leicht erschrocken zurücklegte. Die Stelle beschäftigt mich, nachdem ich jetzt das E-Book gelesen habe, nach wie vor und ist Auslöser für diesen Text. Sie findet sich am Ende der Einleitung, angefügt mit einem „PS“: „Wir verwenden in diesem Buch die männliche und weibliche Form. Alle Geschlechter seien immer damit mitgemeint. Wir hoffen, dafür Ihre Zustimmung zu bekommen.“
Damals im Buchladen erstaunte mich, und das tut es immer noch, wie hier dieser Versuch in geschlechterinklusiver Sprache mitgeteilt und wie wenig er begründet und kritisch reflektiert wird. Die Informationsarmut dieser Stelle steht in deutlichem Widerspruch zum hohen Analyse- und Reflexionsniveau des Buchs. Wenn du ein Sachbuch über Erzählungen der Menschheit und ihre „Mythen, Lügen, Utopien“ schreibst, im Buch aber nicht wirklich entgenderst, was erzählst du dann über Geschlechtervielfalt?
Beim ersten Lesen wirkte die Stelle auf mich lapidar, durch das Anhängen per Postskriptum auch irgendwie verlegen und transparenzfaul. Auf Twitter und in anderen Texten entgendern El Ouassil und Karig mit Doppelpunkt oder Sternchen. Warum nicht auch in diesem Buch? Verzichteten sie aus Rücksicht auf Stilvorgaben des Ullstein Verlags darauf? Falls ja, hätte man das nicht transparent machen, diskutieren und die Entscheidung verteidigen können? [2] Zudem ist es kein glücklicher Griff, angesichts der Debatten und Kämpfe um geschlechtergerechte Sprache, die mittlerweile sehr belastete Vokabel „mitgemeint“ zu nutzen.
Sie wird als degradierend wahrgenommen und Studien zeigen, dass das mit dem Mitmeinen bei Informationsempfänger*innen nicht so recht ankommt. Gerade durch „mitgemeint“ entsteht der Eindruck, dass das Buch abwechselnd im generischen Maskulinum und generischen Femininum verfasst ist, wobei das Maskulinum gefühlt überwiegt. Einem progressiven und an sich gendersensibel geschriebenem Buch wie diesem tut eine solche sprachliche Binarität der Geschlechter nicht gut.
Neue Held*innen braucht die Welt
Das war in etwa mein erster Eindruck damals. Nun, nachdem ich das ganze Buch kenne, stört mich zwar immer noch, dass man sich durchgehend für das Vorgehen Maskulinum-und-Femininum-im-Wechsel entschieden hat, jedoch erscheint es mir jetzt etwas nachvollziehbarer. Es gibt Gründe dafür, die aus den Erfordernissen des Buchs und seinem Kreisen um den Begriff „Heldenreise“ erwachsen.
Erzählungshistorisch ist diese vor allem eine „Reise“ von männlich markierten Helden gewesen, nur selten eine von Heldinnen und noch viel seltener (oder gar nicht) eine von Figuren, die nicht binär als „Mann“ oder „Frau“ angelegt sind. Das hängt mit tradierten Verständnissen von Geschlechterrollen zusammen und kommt im Buch auch ausführlich zur Sprache.
Die entgendernde, progressivere Vokabel „Held*innenreise“ stünde in inhaltlichem Konflikt mit großen Teilen des Buchs. Sie würde eine Geschlechtervielfalt bei fiktionalen Hauptfiguren implizieren, die zwar wünschenswert ist, lange Zeit aber nicht gegeben war und sich auch heute erst langsam mit mehr Breitenwirkung entfaltet. Das zeigen zum Beispiel die erfolgreiche Serie Pose, die Welt der Superheld*innen oder Entwicklungen im Bereich der Fantasy-Literatur, in der zunehmend auch trans, nicht-binäre oder agender Figuren die Protagonist*innen und Held*innen sind.
Gegen Ende des Buchs allerdings, wo es um einen neuen narrativen Umgang mit der Klimakrise und anderen Zukunftsfragen geht, ist die Situation eine andere. Hier hätte es sich durchaus angeboten, auch im Sinne eines Aufbruchs, auf „Held*innenreise“ umzusteigen und zu entgendern. So ließe sich auf sprachlicher Ebene direkt sichtbar machen, dass Gegenwart und Zukunft sie formende Erzählungen brauchen, die binäres Denken in „Mann“ und „Frau“ und die gängigen Zuschreibungen überwinden, die damit leider immer noch verbunden sind.
Progressives Erzählen braucht progressive Sprache
Erzählungen über Geschlechterrollen und geschlechtliche Identitäten zählen zu den mächtigsten überhaupt, weil gerade über sie Strukturen gesellschaftlicher Dominanz gesteuert werden und sie durch Sozialisation so tief in uns eingeschrieben sind. Besonders eindringlich und beängstigend zeigt das aktuell der Feldzug der Republikanischen Partei gegen trans Menschen, Frauen und Personen mit Uterus in den USA.
Progressives Denken und Erzählen braucht progressive Sprache. Vom Prinzip her ist Erzählende Affen nicht im generischen Maskulinum verfasst, stellenweise fühlt es sich aber so an. Bei einem Sachbuch, das sich kritisch mit Menschheitserzählungen und damit immer auch Sprache und Sprachwandel beschäftigt, wirkt das seltsam anachronistisch und widersprüchlich. Hier liegt eine im Buch nicht reflektierte Spannung an, die die Lesefreude schmälert und potentielle Leser*innen, wie mich im Buchladen, abschrecken kann. Intellektuelle Progressivität und fein verästeltes, reflexionsstarkes Denken, wie sie dieses Buch auszeichnen, vertragen sich nicht mit dem generischen Maskulinum oder Lösungen, die diesem ähneln.
Ein-Wort-Geschichten
Im Buch geht es auch um Ein-Wort-Geschichten. Als solche gelten zum Beispiel „Wiedervereinigung“, „Globalisierung“ und „Aufklärung“: „Weil in einzelnen Wörtern ganze Narrative stecken, genügt ein Wort wie ‚Wiedervereinigung‘ und unser narrativer Instinkt springt an.“ In gewisser Weise ist auch jedes entgenderte Wort eine Ein-Wort-Geschichte. Es zeigt auf sprachlicher Ebene direkt an, dass es mehr Geschlechter als nur „Mann“ und „Frau“ gibt und dass, zum Beispiel, Held*innen auch nicht-männlich und trans- oder intergeschlechtlich sein können. Die Welt der Erzählungen braucht diese Botschaft dringend, nach wie vor.
Am Schluss von Erzählende Affen beschwören Samira El Ouassil und Friedemann Karig die Macht der Geschichten und appellieren an ihre Leser*innen: „Erfinden Sie Utopien, fantasieren Sie paradiesische Zustände, seien Sie mutig.“ Gern, aber bitte mit möglichst geschlechterinklusiver Sprache. Nur mit ihr kann Zukunft gelingen. Und sehr gute Bücher macht sie noch besser. ◆
Samira El Ouassil und Friedemann Karig: Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen, Ullstein, Berlin, 2021.
Anmerkungen
[1] Abtreibungserzählungen kommen leider nicht vor. Gerade bei den Themen Schwangerschaft und Schwangerschaftsabbruch lässt sich jedoch sehen, wie sehr dominante Erzählungen Menschen in ihrer Selbstbestimmung einschränken und eine Gefahr für Leib und Leben sein können.
[2] Warum ich von „Entgendern“ und nicht „Gendern“ spreche (es meint das Gleiche, ist aber treffender und akzeptierter bei marginalisierten Menschen, die durch geschlechterinklusive Sprache mehr Sichtbarkeit erlangen), habe ich hier aufgeschrieben. Der Titel dieses Textes („Gendernde Affen“) weicht aus rhetorischen Gründen davon ab.
Tags: Literatur // Sachbuch // Geschlechterinklusive Sprache
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) interessiert sich für Sprache als Herrschaftsmittel und findet, dass das generische Maskulinum den Lesefluss stört.
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