Geldgefühle und Geldgeschichten – eine Lesung mit Mareice Kaiser
Mareice Kaiser las in Stuttgart aus ihrem Buch „Wie viel – Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“. Es ging um strukturelle Armutsschaffung und einen schrecklichen Millionär.
Die Journalistin und Autorin Mareice Kaiser las diesen Sonntag in Stuttgart aus ihrem Buch Wie viel – Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht. Sie sprach über „Geldgeschichten“ und „Geldgefühle“ – ihre eigenen, die der im Buch Interviewten, darunter ihr Vater, und auch die der Zuhörer*innen. Diese konnten zu Beginn Schlagworte nennen, die sie mit dem Thema Geld verbinden. Darunter war zum Beispiel „Abhängigkeit“, woraufhin jemand – ok, dieser jemand war ich – „Freiheit“ rief.
Neben Geldfragen ging es damit zusammenhängend auch um Armut als strukturelles Problem, das gerade in Deutschland gern als ein privates hingestellt wird, um die oft einseitig arbeitgeberfreundliche Streik-Berichterstattung, fehlende Solidarität mit Armutsbetroffenen und um Klassismus. Dieser zeigt sich etwa darin, welche Menschen Politik machen oder diese als Journalist*innen bewerten können. Dabei lag eine angenehme Wut auf die Verhältnisse in der Luft. Das war gleich beim Start zu spüren, als der Name des FDP-Finanzministers Christian Lindner fiel und Mareice Kaiser ihren kurz zuvor geschriebenen Tweet über Lindner und die Kindergrundsicherung zitierte:
Es wurde eine tolle Veranstaltung, auch dank der informierten Moderation durch die Journalistin Anja Wasserbäch und der Organisation des Stuttgarter Kulturzentrums Merlin, wo die Lesung stattfand. Kinder konnten an einem zeitgleich laufenden Star-Trek-Zukunftsworkshop teilnehmen, in dem sie über die zukünftige Rolle von Geld nachdachten. Die Ergebnisse des Workshops präsentierten sie nach der Lesung auf der Bühne. Dort standen dann übrigens nur weiblich lesbare Kinder, was Zufall gewesen sein mag, aber auch Hoffnung macht, dass in Zukunft viel mehr Frauen, und trans und nicht-binäre Personen, über Geldfragen und damit das Schicksal von Milliarden Menschen entscheiden.
Als Mareice Kaiser von einem schrecklich unsympathisch wirkenden Millionär erzählte, der zuvor bei einer Frankfurter Lesung nicht mehr als 10 Euro für Kaisers „Umverteilungstonne“ gab („Ich bin ja nicht reich geworden, weil ich Geld verschenkt habe.“), hätte ich erbost fast #EatTheRich reingerufen. Zudem sprang, in einer dunklen Ecke meiner Seele, die Französische Revolution mitsamt einem Gerät auf, das damals viel zu tun hatte und bei Reichen sehr unbeliebt war. Aber, wie gesagt, nur in einer dunklen, dunklen Ecke der Seele – und eine wirkliche Lösung des Problems wäre das auch nicht. Armut ist ein strukturell bedingtes, wenn nicht gar systemisch gewolltes Problem. Eine Verurteilung von Individuen nützt wenig, wenn weitreichende Systemreformen oder ein Systemwechsel ausbleiben.
Machthebel Bedingungsloses Grundeinkommen
Mareice Kaiser ist sehr schlagfertig und beeindruckend gut darin, lebensnah über Abstraktes zu sprechen, was Geldthemen ja auch sein können. Besonders greifbar dürfte für viele Zuhörer*innen gewesen sein, als sie von ihrem Vater, einem Berufskraftfahrer, oder von einem langjährigen Lieferando-Fahrer und jetzigen Lieferando-Betriebsrat erzählte, der in ihrem Buch ebenfalls zu Wort kommt. Ich sah Mareice Kaiser zum ersten Mal live und hatte bei ihr schnell das Gefühl, dass sie die nüchterne Analyse struktureller Missstände mit dem Kampf für eine gerechte Sache verbindet, auch aus ihrer persönlichen Erfahrungswelt und Lebensgeschichte heraus.
Im Rückblick hätte ich mir gewünscht, dass bei dieser wunderbaren Lesung auch das Thema Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE) zur Sprache gekommen wäre. Wenn über Arbeit, Geld und damit zusammenhängende Abhängigkeits- und Machtverhältnisse gesprochen wird, sollte die, zunehmend an Popularität gewinnende, Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens zumindest gestreift werden. Das BGE ist ein Machthebel, der manche während der Lesung angesprochenen Missstände lindern oder sogar beheben könnte. Dass es unerwähnt blieb, kreide ich aber auch mir an: Es hätte gut zur Fragerunde gepasst – und zu meinem eingangs gerufenen „Freiheit“. ◆
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Oliver Pöttgen (er/ihm) hat sich bei dieser Lesung wieder gefragt, was er als Superreicher tun würde und warum so wenige Superreiche tun, was er tun würde.
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