Die Sonne hat das Wort
Das Schauspiel Stuttgart inszeniert Elfriede Jelineks „Sonne / Luft“ und schafft eine Augenweide. Ein Merkmal guten Theaters zeigt sich auch.
Haben Sie schon einmal eine Literaturnobelpreisträgerin getroffen? Elfriede Jelinek zum Beispiel? Ich schon. Also nicht „in echt“, wie man so sagt. Aber im Theater, auf der Bühne des Stuttgarter Kammertheaters. Das hat vor kurzem, zum letzten Mal in dieser Spielzeit, Jelineks Texte Sonne, los jetzt! und Luft aufgeführt. In gekürzter Fassung und nicht einzeln, sondern miteinander verwoben unter dem Titel Sonne / Luft. Fast wäre es dazu allerdings nicht gekommen, weil ein Schauspieler des fünfköpfigen Ensembles ausgefallen ist. Noch am Aufführungstag ist das Stück angepasst worden, um es trotzdem spielen zu können, wie Dramaturg Lennart Göbel zu Beginn erklärt.
Zu merken ist von diesen widrigen Umständen nichts. Die vier Spieler*innen arbeiten sich bravourös durch das umgeschriebene Stück und Jelineks massive Textfläche(n). Mit „Textfläche“ ist hier gemeint, dass manchen dramaturgisch genutzten Texten nicht unbedingt anzusehen ist, fürs Theater geschrieben zu sein. Beim Postdramatischen Theater, für das Elfriede Jelinek als wichtige Vertreterin gilt, ist das nicht untypisch. Wie die Textfläche von Sonne / Luft aussieht, lässt sich auf Jelineks Website erfahren, wo beide Ursprungstexte veröffentlicht sind.
Es mag eine Binse sein, dass bei Theaterstücken in gewisser Weise immer auch die Dramatiker*innen, die das Stück geschrieben haben, auf der Bühne stehen – oder die Autor*innen der Textfläche. Zumindest manche ihrer Gefühle, Gedanken und Werte stehen dort. Vielleicht auch Teile ihres Lebens. Ob Binse oder nicht: In der Stuttgarter Inszenierung kann man den Eindruck gewinnen, Elfriede Jelinek bei einer Art lautem Nachdenken zu beobachten. Als stünde man neben Jelineks Schreibtisch und sähe dem Mäandern ihrer Gedanken zu.
Dieser Eindruck speist sich nicht zuletzt aus dem Sprechen mancher Darsteller*innen. Das hat einen, so scheint mir, wienerischen Einschlag und ist mit Prisen wienerischen Humors („Wiener Schmäh“) angereichert. „Ich bin Wienerin“, schrieb Jelinek 2007 über sich, ihre Herkunft in Österreich klarstellend, wie im Programmheft des Stücks zu lesen ist. Aus Wien stammen auch der Regisseur FX Mayr und die Schauspielerin Silvia Schwinger; ebenfalls österreichische Wurzeln hat Matija Schellander (Musik). Und die in Berlin geborene Schauspielerin Camille Dombrowsky scheint sich hier ebenso eines österreichisch anmutenden Zungenschlags zu bedienen. Kurzum, Jelineks Duktus ist auf der Bühne auch dialektal präsent.
Der solare Horror
Textlich liefert das Stück zwei miteinander verschränkte Monologe, den der Sonne und den über die Luft. Zumindest die Sonne ist hier eindeutig als Subjekt markiert, das in der Ich-Perspektive seinen Einfluss auf das Leben der Menschen und das irdische Geschehen insgesamt reflektiert. Die ideengeschichtlich etablierte Deutungsrichtung findet sich also umgekehrt: Nicht die Menschen deuten die Elemente, denen sie auf Gedeih und Verderb ausgesetzt sind, sondern die Elemente selbst äußern sich zum Wesen ihres Seins, zur Wirkung ihrer Kräfte auf der Erde. Die Natur ist, vor allem im Sonnen-Monolog, sprechendes Subjekt, der Mensch stilles Objekt – und Opfer.
„[…] alles geschieht unter mir, nichts geschieht ohne mich, denn wenn es dunkel wird, gibt es mich trotzdem, bloß nicht hier, es gibt mich woanders“, sagt die von Katharina Hauter majestätisch gespielte Sonne. Sie ist nicht nur überheblich, sondern auch, wie die Journalistin Verena Großkreutz in ihrer Kritik schreibt, böse. Hoch oben im All thront sie mit zynischer Gleichgültigkeit und frönt absolutistischer Vernichtungslust. „Gewordenes zu zerstören ist lustiger“, sagt sie und sinniert über das Verbrennen von Menschen samt deren irdischem Werk. Auch die Klimakatastrophe steht hier auf der Bühne. Die Luft dagegen kommt im Vergleich eher friedlich rüber, ist mehr Faszinosum als Schrecken.
Der solare Horror spiegelt sich auch auf der zwar reduziert, aber eindrücklich gestalteten Bühne wider; ganz besonders im Farbenspiel, das zwischen Glut und Kälte wechselt (Licht: David Sazinger). In dem eher kahlen, dystopischen Setting kommt die wilde Opulenz der Kostüme (Ausstattung: Korbinian Schmidt) umso mehr zur Geltung. Mitunter entfalten sie, gepaart mit Jelineks Wörterwind, eine hypnotische Wirkung, als hinge man an den Lippen eloquentester Fabelwesen. Besonders das Kostüm und filigrane Spiel Silvia Schwingers betören. Nicht unerheblichen Anteil daran hat der glitzernde, ihr ins Gesicht geschminkte Totenkopf. Er lässt an Mexikos „Tag der Toten“ denken und verleiht der Morbidität des Stücks angenehm plakativ Ausdruck.
Die Stuttgarter Inszenierung von Sonne / Luft ist eine Augenweide und liefert ein Theatererlebnis, das lange nachwirkt. Zudem ist es ein hervorragendes Beispiel dafür, dass Theater weit mehr ist, als im Text steht. Es ist fast magisch, was die Beteiligten aus einer Textfläche gemacht haben, bei der ich mich, trotz meiner Bewunderung für Elfriede Jelinek, nicht des Eindrucks erwehren kann, dass es hier und da etwas zu sehr mäandert und ins Kryptische driftet.
Vielleicht ist auch das ein Merkmal guten Theaters und versierten Schauspiels: Inhalte von Texten werden ein Stück weit weniger wichtig, wenn das übrige Bühnengeschehen so zu faszinieren weiß wie hier. ◆
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) machen Elfriede Jelineks Ursprungstexte zu schaffen, weiß aber zu schätzen, dass sie auf Jelineks Website veröffentlicht und damit diskutierbar sind.
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