Der erschossene Gottschalk
Das Schauspiel Stuttgart inszeniert „Zertretung“ von Lydia Haider. Über ein Theaterstück, das nach der Macht von Sprache fragt und Maskulinismus massakriert.
Eine Warnung ist geboten: Dies ist, soweit ich mich erinnern kann, das erste Mal, dass ich über ein Theaterstück schreibe. Zumal über eines, das meiner Freundin, die mit mir im Theater saß, nicht gefallen hat — anders als mir. Beides erzeugt Druck. Zum einen, weil dieser Text eines Laien formale Kriterien einer Theaterkritik, so es sie denn gibt, nicht völlig über den Haufen werfen sollte. Und zum anderen, weil ich zu verstehen glaube, warum meiner Freundin das Stück missfiel. In Teilen sehe ich es ähnlich. Trotzdem mochte ich das Stück als Ganzes. Dieser Text ist damit, das sei schon verraten, weder Verriss noch Lobeshymne. Und er ist natürlich, wie der Theaterkritiker Henning Rischbieter über seine Arbeit für den Deutschlandfunk schrieb, bloß „Unternehmen einer subjektiven Annäherung“. Es lässt sich also, ganz subjektiv, auch anders sehen.
Objekt meines Annäherns ist das kürzlich gesehene Stück Zertretung, inszeniert vom Schauspiel Stuttgart. Die Aufführung hatte ihre Premiere im April, läuft noch einige Male im Mai und basiert auf zwei Texten der österreichischen Schriftstellerin und Dramatikerin Lydia Haider. An den Titeln beider Texte lässt sich vielleicht schon erahnen, auf was sich Zuschauer*innen gefasst machen können. Sie lauten „Zertretung — 1. Kreuz brechen oder Also alle Arschlöcher abschlachten“ und „Zertretung — 2. Sprache essen Abgott auf oder Du arme Drecksfutmetzger“.
Radikal und sprachgewaltig
Auf seiner Website schreibt das Schauspiel Stuttgart über Haider, im Ruf zu stehen, eine der „radikalsten und sprachgewaltigsten“ Stimmen der zeitgenössischen österreichischen Literatur zu sein. Da wundert es nicht, dass die Premiere des ersten Teils von Zertretung 2021 in Wien für einen „Sturm der Empörung in der österreichischen Politik“ gesorgt hat, wie das Stuttgarter Stadtmagazin LIFT in seiner April-Ausgabe schreibt. Dessen Interview mit Glen Hawkins, Regisseur*in der Stuttgarter Inszenierung, machte mich auf das Stück aufmerksam. Es ist Hawkins’ Abschlussarbeit an der Ludwigsburger Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Dort studieren auch die beiden Schauspieler*innen des Stücks, Saba Hosseini und Marie Schwanitz.
Der Text in der LIFT weckte vor allem deswegen mein Interesse, weil er überschrieben ist mit „Abrechnung mit der Sprache“ und „‚Zertretung‘ von patriarchalen Strukturen“. Hier auf vliestext ging es schon einige Male um Sprache als Herrschaftsmittel und geschlechterinklusive Sprache als Herausforderung patriarchaler Strukturen. Nicht zuletzt deswegen ist ein Theaterstück, das laut LIFT der Frage nachgeht, „ob es für Struktur-Veränderungen nicht unabdingbar ist, die Sprache als zentrales Instrument der Machtausübung zu neutralisieren, sie vielleicht sogar mit roher Gewalt niederzustrecken?“, für vliestext von Interesse.
An Bildern roher Gewalt mangelt es Zertretung nicht. Gleich in der ersten von 14 „Runden“ geht es hart zur Sache, skandalträchtig hart. Die beiden Figuren, sie bleiben namen- und hintergrundlos, sind aber als Frauen lesbar, bringen zur Sprache, wie real existierende Männer aus der österreichischen Politik und Gesellschaft auf brutale und vielfältige Weise zu Tode kommen, wie sie abgeschlachtet werden, im eigentlichen Sinn des Wortes. Darunter sind etwa Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz, Neo-Nazi Martin Sellner und Volksmusiksänger Andreas Gabalier. Akteure also, die nicht für ihren Feminismus bekannt sind. Glück hat der Deutsche Thomas Gottschalk — er wird nur erschossen.
Es ist eine Freude, Zeuge dieser rasenden Wut zu sein. Einem Massaker am Maskulinismus, einem apokalyptisch-ekstatischem Rausch, der seinen Ausdruck auch im Wegschleudern von Kleidung findet. Kleidung als Sinnbild für Sprache als Gefängnis, aus dem es sich zu befreien gilt? Als Sinnbild für eine Sprache, deren Erwerb gesellschaftlich kontrolliert erfolgt und damit patriarchal vorgeprägt ist? Wird auch das generische Maskulinum weggeschleudert, der große Unsichtbarmacher von allem, das nicht männlich ist? Stück für Stück entledigen sich Hosseini und Schwanitz ihrer schweren, sakralen Kostüme und finden dabei zu Haiders Sprache, die der österreichische Standard „biblisch donnernd“ nennt und die von da an das Stück in großen Teilen bestimmt.
Ob biblisch oder nicht: Es ist nicht leicht, dem gesprochenen Wort in Zertretung zu folgen. Nicht nur wegen der sturzbachartigen „Bandwurmsätze, die wirklich kein Ende nehmen“, wie der Theaterkompass schreibt. Ihre Texte sollen möglichst atemlos sein und nicht absetzen, sagt Haider dem Standard. Diese Atemlosigkeit wolle sie auch den Rezipientinnen aufzwingen. Während sich das Stück zu Beginn nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass es in all seiner Intensität im vorderen Teil der Bühne stattfindet, in unmittelbarer Nähe zum Publikum, verlagert es sich später in den rückwärtigen Teil der Bühne. Mitunter verliert es sich dort auch, weil akustisch vom Text weniger beim Publikum ankommt. Hier könnten digitale Texttafeln helfen.
Vielleicht geht es aber weniger um das wortwörtliche Verstehen als vielmehr um die Effekte, die die Sprache transportiert. Selbst wenn das Gesprochene nur bruchstückhaft gehört und verarbeitet werden kann, kommt bei Zuhörenden an, dass sich eine Menge Wut und Hass auf die Verhältnisse entlädt. Haider hat nicht ohne Grund einen Sammelband mit dem Titel Und wie wir hassen! herausgegeben. In der Stuttgarter Aufführung kommt hinzu, dass die Bedingungen schaupielerischen Sprechens oft nicht die einfachsten sind. Die Figuren rennen im Kreis, kämpfen miteinander und purzeln durch eine Hüpfburg. Phasen der Ruhe, körperlich wie textlich, gibt es gleichwohl auch. Für Regisseur*in Hawkins ist das Stück eine „emotionale Achterbahnfahrt“.
Wenn die Hüpfburg fällt
Dass diese Fahrt durch eine Hüpfburg führt, verdient abschließend vielleicht besondere Würdigung, wenn nicht gar, als Teil meines subjektiven Annäherns, den Versuch einer Deutung. Wie oft Hüpfburgen in Theaterstücken Verwendung finden und inwiefern ihr Einsatz als „originell“ gelten kann, weiß ich nicht. Hier jedenfalls hat die Hüpfburg gepasst. Wie eingangs die Kleidung ist auch sie als Sinnbild für Sprache als Gefängnis lesbar, als Begrenzerin des Sag- und Denkbaren, als Einhegerin des politisch Möglichen. Die Figuren werfen sich in ihr hin und her, prügeln sich in ihr, schreien gegen ihre Wände an. Als die majestätische Hüpfburg schließlich fällt, kriegen auch die in sich zusammensackenden Spitzdachtürme Schläge ab. Es braucht nicht viel Fantasie, um hierin ein Eindreschen auf Phalli zu erkennen — Männlichkeitssymbole schlechthin.
Aber auch ohne die Sichtung von Phalli bietet Zertretung von Lydia Haider in der Stuttgarter Inszenierung durch Glen Hawkins einen eindrücklichen Theaterabend, der anspruchsvolle Fragen zur Macht von Sprache mit Prisen komischer Absurdität verbindet. Auch das kraftvolle Spiel von Saba Hosseini und Marie Schwanitz beeindruckt. Die Beschreibungen brutaler Gewalt gleich zu Beginn des Stücks tun das ebenfalls, brauchen vielleicht aber eine Inhaltswarnung. Etwas leichter hätte es dem Publikum, zumindest meiner Freundin und mir, auch durch Texttafeln gemacht werden können. Über die ließe sich zudem Vorwissen bereitstellen: Wenn man weiß, dass Martin Sellner ein Neo-Nazi ist, freut man sich noch mehr über die Fiktion seiner Zertretung. ◆
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) hat sich dank Zertretung wieder einmal vorgenommen, öfter ins Theater zu gehen und vielleicht darüber zu schreiben.
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