Von der Kraft weiblicher Wut: Ciani-Sophia Hoeder las in Stuttgart aus „Wut und Böse“
Über Wut von Frauen als Motor gesellschaftlichen Wandels sprach die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder im Kulturzentrum Merlin.
Vergangenen Sonntag sah ich eine „hoffnungsvolle Pessimistin, kritische Romantikerin und optimistische Realistin“ in Aktion. So beschreibt sich Ciani-Sophia Hoeder auf ihrer Website. Die Autorin war im Rahmen der Reihe „Wir müssen reden!“ im Stuttgarter Kulturzentrum Merlin zu Gast, mit ihrem Sachbuch Wut und Böse. Das Buch erschien bereits 2021, hat aber wenig von seiner Aktualität verloren.
Wie sollte es das auch, wenn es darin um die produktive und transformative Kraft der Wut geht, genauer: um die Wut von Menschen, die keine weißen cis Männer sind und damit, in der Regel, durch gesellschaftliche Strukturen benachteiligt, marginalisiert und diskriminiert werden. Es geht um Wut als ermächtigendes Gefühl, als Motor sozialen Wandels. Ohne Wut gebe es keine Veränderung, heißt es im Buch. Gemeint ist dabei die „gute“ Wut, mit der sich eine bessere Zukunft für alle erschaffen lässt, besonders im (queer)feministischen und antirassistischen Sinne.
Heutzutage ist es noch so, schreibt Hoeder, dass Wut nicht allen Menschen in gleicher Weise zugestanden wird. Wütend auftreten, ohne dafür sozial sanktioniert zu werden, können traditionell vor allem Männer. Frauen hingegen, und ganz besonders nicht-weiße Frauen, haben ihre Wut im Zaum zu halten, wenn sie Nachteile vermeiden wollen, etwa auf der Arbeit. Das Patriarchat hat eine tiefe kulturelle Angst vor der Wut von Frauen. Gerade in Zeiten des Rechtsrucks und patriarchalen Abwehrkampfs gegen alles Neue brennen viele der Themen von Wut und Böse nach wie vor lichterloh.
Die Macht der Zuschreibungen
Im Mai erscheint Hoeders neues Buch Vom Tellerwäscher zum Tellerwäscher: Die Lüge von der Chancengleichheit. Am erfreulich deutlichen Wort „Lüge“ lässt sich sehen, dass die Autorin keine Freundin verdruckster Sprache ist. Als Gründerin des RosaMag, einem nach der US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks benannten Online-Magazin für Schwarze FLINTA*, kann sie das vielleicht nicht sein.
Auch im Merlin brachte Hoeder die sprachlich-inhaltliche Klarheit, die Wut und Böse auszeichnet, gut zum Ausdruck. Eine Moderator*in brauchte sie dafür nicht. Sie saß allein auf der Bühne und verband die vorgelesenen Buchpassagen mit Erläuterungen und Publikumsinteraktion. So sollten die Anwesenden etwa durch lautes Rufen bestimmte Charaktereigenschaften, die Hoeder in den Raum warf, als „weiblich“ oder „männlich“ kategorisieren und damit gesellschaftliche Rollenzuschreibungen widerspiegeln, unter denen Frauen (und Männer) traditionell zu leiden haben. „Hysterisch“ gehörte dazu.
Dank Hoeders Vortragsweise und ihrem Einflechten persönlicher Erlebnisse war es eine sehr lebendige Lesung. Dazu trugen auch die anschließenden Fragen der Zuhörer*innen bei. Als besonders interessant empfand ich die Frage, wie man dahin komme, Wut als „Kompass“ für das eigene Handeln zu nehmen. Den Begriff verwendete Hoeder während der Lesung. Sie antwortete, man solle sich fragen, in welchen konkreten Situationen Wut auftritt. Oft setze dann die Erkenntniss ein, dass man auf gesellschaftliche Strukturen, auf sozial gemachte und damit veränderbare Machtverhältnisse wütend ist. Das sei ein selbstbefreiender Prozess, der den Blick weg von individuellem Empfinden lenkt und sich aktivistisch nutzen lässt.
Wut und Gewalt
Ich ließ mich zu der Frage hinreißen, ob die Autorin noch etwas zum Verhältnis von Wut und Gewalt sagen könnte; ein großes und, je nachdem, ethisch schwieriges Thema. Physische Gewalt, die nicht von Staatsorganen ausgeht, hat es in der Wahrnehmung moderner Gesellschaften gemeinhin schwer, abgesehen von Werken der Fiktion oder bestimmten Sportarten. Die Maxime der „Gewaltlosigkeit“ ist das Maß vieler Dinge, vor allem dann, wenn es um gesellschaftlichen Protest und Widerstand gegen politische und wirtschaftliche Verhältnisse geht. Wenn zivile Akteur*innen zu physischer Gewalt greifen, um politische Ziele zu erreichen, delegitimieren sie sich. Zumindest dürfte das die vorherrschende Meinung sein.
Das ist grundsätzlich auch gut so. Allerdings stellt sich genauso grundsätzlich die Frage, ob physische Gewalt ab einem gewissen Punkt, einem bestimmten Wut- und Verzweiflungsgrad, nicht doch legitimer werden kann. Hoeder sagte mehrmals, dass Wut aber „kein Freifahrtsschein“ für Gewalt ist. Bei ihrer Antwort auf meine Frage beschränkte sie sich auf die umgekehrte Wirkrichtung von Wut und Gewalt, wie sie auch im Buch behandelt wird: Wut als Reaktion auf erfahrene Gewalt, die vielförmig auftreten kann — sprachlich, strukturell, physisch.
Erfolg trotz leerer Plätze
Die Lesung war nur mäßig besucht, viele Plätze blieben frei. Das dürfte nicht nur am Sonntagvormittag und am Sommerwetter gelegen haben. Das Fernbleiben eines größeren Publikums lässt sich auch so deuten, dass machtkritische Bücher wie Wut und Böse in den vergangenen Jahren recht erfolgreich waren und ihre Inhalte im Jahr 2024 vertraut wirken.
Hoeder sprach zum Schluss der Lesung selbst an, dass einiges von dem, was sie vortrug, mittlerweile „Konsens“ ist. Zumindest in bestimmten Teilen der Gesellschaft, mag man hinzufügen. Ja, es ist zu einer Art Konsens geworden, aber eben ganz maßgeblich dank Büchern wie Wut und Böse und Autor*innen wie Ciani-Sophia Hoeder. ◆
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Oliver Pöttgen (er/ihm) liest als nächstes Şeyda Kurts Hass: Von der Macht eines widerständigen Gefühls und sucht auch dort nach dem Zusammenhang von Wut und Gewalt.
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