In diesem Text geht es um den plötzlichen Lungenkrebstod meiner 77-jährigen Mutter Ende November, ihre letzten Tage im Krankenhaus und den Umgang ihrer Familie damit. Es ist eine, wie ich hoffe, pietätvolle Sammlung von Eindrücken, deren Vertextung mir beim Trauern hilft. Das Veröffentlichen hilft dabei ebenso und ich glaube, deswegen hätte dem meine Mutter auch zugestimmt.
„Filmreif“ – das ist eines der Wörter, mit denen ich die letzten Tage und Stunden meiner Mutter beschreiben kann. Sie ging zwar nicht bei einer Verfolgungsjagd drauf oder fiel einer Auftragskillerin zum Opfer, wie im Film kam ich mir an ihrem Sterbebett dennoch vor. Jetzt im Rückblick, wo ihr Tod drei Wochen her und ihre Urne beigesetzt ist, hat es immer noch viel von einem Film.
Es begann schon bei meiner von Angst geprägten Anreise. In aller Eile und mit einem Haufen Gepäck reisten meine Freundin und ich mit der Bahn von Stuttgart nach Meschede im Sauerland, wo meine Mutter im Krankenhaus lag und ich aufgewachsen bin. Anders als geplant stiegen wir eine Station früher aus, um direkt per Taxi ins Krankenhaus fahren zu können, weil mir während der Fahrt mein Bruder aus dem Krankenzimmer geschrieben hatte, dass es Mutter immer schlechter geht, ab jetzt immer jemand bei ihr sein sollte und sie fortwährend „Ich kann nicht mehr!“ sagt. Hier hatte ich das erste Mal Angst, sie nicht mehr lebend zu sehen.
Matriarchin und Söhne
Die Szenerie der folgenden drei Tage, von Samstag bis Montag, trug auch dazu bei, dass ich mir wie im Film vorkam. Oder wie in einem Gemälde vergangener Jahrhunderte. Es hatte eine gewisse Malbarkeit, wie der eine Sohn die linke und der andere Sohn die rechte Hand der Mutter hielt, im Wechsel oder zusammen mit den Freundinnen; und wie wir ihr beim Trinken und Essen halfen, um ihr Bett herumwuselnd. Das vom Krankenhaus für uns zum Schlafen freigelassene zweite Bett des Zimmers verstärkte diesen Eindruck noch. Als würden wir uns von einer großen Matriarchin verabschieden.
In gewisser Weise mag meine Mutter etwas von einer Matriarchin gehabt haben, auch ohne zeitlebens je die finanziellen Mittel oder die soziale Stellung genossen zu haben, die damit oft einhergehen. Matriarchalisch war allerdings, mit welcher Entschlusskraft sie ihre letzten Wünsche äußerte, unter anderem den, schnell sterben zu wollen. Es war auch gutes Sterbewetter: Der Samstag und Sonntag boten nasskaltes, reudiges Novembergrau, wie es das Sauerland ganz besonders gut kann. Am Montag dann setzte Schneefall ein, der in der Nacht auf Dienstag, als meine Mutter starb, immer stärker wurde und dessen Hinterlassenschaft sich eine Woche hielt.
Das Butterbrot und der Tod
Die meisten menschlichen Leben sind durch das (unterschiedlich furchtbare) Sterben anderer Menschen geprägt. Für meine Mutter gilt das vielleicht in besonderer Weise. Das wurde uns wieder klar, als wir der Trauerrednerin einen Lebenslauf zusammenstellten. Beim plötzlichen Tod ihres Vaters war sie 18, beim Tod ihrer Mutter 29. 33 war sie, als ihr erster Sohn starb, im Alter von zwei Jahren, erstickt an einem Butterbrot. Ihr Mann, mein Vater, starb 2001 nach Jahren des körperlichen und seelischen Zerfalls. Da war sie 55. Auch die Tode der zwei Geschwister meines Vaters 2013 und 2018 mögen „natürlich“ gewesen sein, würdevoll waren sie kaum. Besonders das Ende meines Onkels, der im Haus nebenan lebte, war lang und hässlich, mit Wahnvorstellungen und einem geladenen Revolver im Nachtschrank, wie sich später herausstellte.
Zu Buche stehen auch zwei tote Hunde, die jeweils im Alter von knapp 14 Jahren eingeschläfert werden mussten. Kurz nach dem Tod des zweiten Hundes 2021 erlitt meine Mutter einen Herzinfarkt, von dem sie sich nie wieder ganz erholte. Wohl auch, weil es ihr danach zwar sofort gelang, nach Jahrzehnten das Rauchen aufzugeben, sie an anderen kleinen Genüssen aber festhielt. Einerseits habe ich ihr Genießerinnentum geliebt (und davon zum Beispiel in Form weihnachtlicher Care-Pakete profitiert), andererseits hätten wir womöglich noch das ein oder andere Jahr mehr zusammen haben können, wenn es ihr etwa gelungen wäre, auch dem regelmäßigen Glas Wein zu entsagen und weniger Fleisch zu essen.
Auftritt Lungenkrebs
Letzten Endes dürfte aber wohl selbst mit Genussverzicht nicht mehr viel zu retten gewesen sein. Als sie mein Bruder am 13. November ins Krankenhaus brachte, ging es erst um Herz-, Atem- und Rückenbeschwerden. Völlig überschattet wurden diese dann von einem neuen Befund eine Woche später: Lungenkrebs im weit fortgeschrittenen Stadium, kleinzelliges Bronchialkarzinom, bekannt für seine Tödlichkeit.
Nach dem Start der Chemotherapie verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand meiner Mutter rapide und sie entschied sich, die Behandlung gleich wieder abzubrechen. Das brachte sie deutlich und mehrmals im Beisein ihrer Familie zum Ausdruck. Sie wollte sterben. „Worauf warte ich?“, sagte sie mir, als meine Freundin und ich ihr in der drittletzten Nacht ihres Lebens, von Samstag auf Sonntag, beistanden. „Auf [Name meines Bruders]“, antwortete ich. Mein Bruder kam morgens wieder und wachte, zusammen mit seiner Freundin, in der Nacht von Sonntag auf Montag am Bett. Eine Nacht später, am 28. November kurz nach Mitternacht, starb meine Mutter. Friedlich, wie wir hoffen, im Schlaf.
Ich glaube, das Erfahren eigener körperlicher Zerstörtheit und das Erleben qualvoller Tode ihr nahestehender Menschen, allen voran meines Vaters, haben sie in der Summe dazu bewogen, einen möglichst schnellen, selbstbestimmten Abgang hinzulegen. Sie wollte nicht dahinsiechen und zur, in ihren Augen, Last für die Familie werden. Sie wollte, dass es schnell zu Ende geht, im Krankenhaus, nicht zuhause, und hat, vermuten wir, vielleicht schon seit einiger Zeit geahnt, wie schlecht es um ihre körperliche Gesundheit steht. Anmerken lassen hat sie sich davon, typisch für sie, eher wenig. Vermutlich auch, um uns zu schützen. Zuletzt nahmen ihre Beschwerden jedoch derart zu, dass sie den Weg ins Krankenhaus wagte. Mit großer Angst trat sie diesen Weg an, wie mein Bruder später erzählte.
Kein Sterbehilfe-Krimi
Die vergangenen drei Wochen zählen zu den schrecklichsten meines Lebens. Manches war allerdings auch schön. Mandarinen zum Beispiel haben nun einen besonderen Platz in meinem Herzen, weil sie meine Mutter bis zuletzt noch essen konnte. Aus unseren Händen. Stück für Stück haben wir sie ihr angereicht. Schön war auch, dass wir unserer Mutter in ihren letzten Tagen beistehen und uns aus ganzem Herzen von ihr verabschieden konnten. Und sie sich von uns. Es spendet viel Trost, dass es genau so kam, wie sie es wollte, und dass sie ihren Willen uns und schließlich auch den Ärzt*innen klar mitteilen konnte.
Ich bin zudem sehr froh, den Sterbehilfe-Krimi wieder vergessen zu können, der an jenem Sonntag vor meinem übermüdeten geistigen Auge ablief. Auslöser dafür war vor allem eine Pflegerin, die eine leichte Stabilisierung des Zustands meiner Mutter festzustellen meinte und uns Zuversicht spenden wollte. Vielleicht aus persönlicher Überzeugung, vielleicht aus dem Berufsethos als Angestellte eines christlich geprägten Krankenhauses heraus. Man könne ja, schlug sie vor, am nächsten Tag mit dem Sozialen Dienst die Optionen, darunter häusliche Pflege, noch einmal neu sortieren. Meine Mutter widersprach, so gut sie noch konnte, und ich verteidigte ihre Entscheidung, sterben zu wollen.
Kurz danach fuhren wir in einen Vorort von Meschede, um in meinem alten Zuhause, wo meine Mutter über 50 Jahre lebte, nach der Nacht im Krankenhaus ein paar Stunden Ruhe zu finden. Das klappte nur bedingt. Mein Schreckensszenario war nun nicht mehr, dass meine Mutter stirbt, sondern dass ihr Wunsch des schnellstmöglichen Sterbens nicht erfüllt werden kann, wenn ihr Körper sich wehrt. Es gab keine schriftliche Patientenverfügung, meine Mutter hatte ihren Wunsch zu dem Zeitpunkt noch keinem Arzt mündlich mitteilen können und aktive Sterbehilfe ist in Deutschland, leider, gesetzlich verboten. Ich malte mir schon aus, wie ich sie in der Nacht auf Montag zu überzeugen versuche, die Chemotherapie doch fortzusetzen, weil sie das wahrscheinlich nicht überleben würde und sie so am schnellsten bekäme, was sie will. Den eigenen Tod.
Komet ins Herz
Ein vorläufiges Ende fand dieser Ideenstrudel, als wir am Sonntagnachmittag wieder im Krankenhaus waren und auf dem Zimmer Musik lief. Radio. Bayern3. Eine Pflegerin hatte es eingeschaltet, weil ihr die Stimmung auf dem Zimmer zu bedrückend war und sie meinte, dass sich meine Mutter über ein bisschen Hintergrundmusik freuen würde. Damit hatte sie vermutlich recht, mir hingegen schoss die Musik direkt ins Herz und angeschlossene Tränendrüsen.
Ich hatte vorher schon geweint, allein, mit meinem Bruder, mit meiner Freundin, aber als ich wieder am Bett saß und Mutters Hand nahm, schaltete das Lied Komet von Udo Lindenberg und Apache eine neue Stufe des Weinens frei. Neben den Melodien griff mir besonders die Zeile „Und wenn ich geh’, dann so wie ich gekommen bin.“ ins Herz, weil sie zur Selbstbestimmung passte, die meine Mutter zuvor in ihrem Leben und nun bei ihrem Wunsch, zu sterben, gezeigt hatte. Für den Moment hielt ich es im Zimmer nicht mehr aus. Ich zog mich auf das Flur-WC zurück, um dort heftig zu weinen und für mich zu sein. Bisher war das der körperlich intensivste Moment meines Trauerns.
Das Titelbild dieses Textes ist das letzte Foto, das meine Mutter gemacht hat. Aufgenommen am 10. November, drei Tage vor ihrem Gang ins Krankenhaus, zeigt es einen Busch mit Lichterkette im Garten, drapiert von meinem Bruder. Sie hat es uns per Telegram-App geschickt, weil sie wusste, dass meine Freundin Weihnachtsdeko mag und wir schon welche aufgestellt hatten. Ich liebe das Foto nicht zuletzt deswegen, weil es verwackelt ist. Meine Mutter war nie gut darin, Fotos mit einem Handy zu machen. Dass auch ihr letztes Foto unscharf ist, finde ich schön.
Ich hoffe, dass mir die Erinnerung an meine geliebte Mama für immer so hell leuchten wird wie die Lichterkette in der Nacht. ◆
Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) hatte auch beim Tod seines Vaters 2001 ein besonderes Erlebnis mit Musik. Bei einer abendlichen Andacht sang ein Männergesangsverein ein Trauerlied, das Oliver sofort Tränen in die Augen trieb. Es war das erste Mal, das er um seinen Vater, zu dem er ein eher unterkühltes Verhältnis hatte, weinte.
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