Wie es sich anfühlt, chronisch krank zu sein
Im Buch „Muskeln aus Plastik“ von Selma Kay Matter geht es um Long COVID. Eine Ärztin ordnet ein, welchen Wert das Buch beim Verstehen des Lebens chronisch kranker Menschen hat.
„Chronische Erkrankungen haben im Gegensatz zu Unfällen meiner Meinung nach vor allem ein dramaturgisches Problem“, schreibt Selma Kay Matter in seinem Buch Muskeln aus Plastik. „Care und Empathie halten maximal so lange wie ein Gips, und man weiß doch genau, wie das ist, wenn der Gips irgendwann gräulich und muffig wird und alle schon unterschrieben haben.“
Auf einen Blick und Klick: Vorreiter*innen // Warten auf den nächsten Crash // Was mich zu einer besseren Ärztin machte // Offen sein // Fürsorge als Machtkritik
Dieses Problem versucht Matter in Muskeln aus Plastik zu fassen. Als „Mischung aus Erlebtem und Erdachtem“ bezeichnet der Autor sein 2024 erschienenes Buch in einem Interview mit der taz. Die Mischung zeigt sich auch darin, dass Muskeln aus Plastik ein Genre-Hybrid ist, ein Mix aus Autofiktion, Sachbuch und Essay. Als solcher spannt das Buch einen Bogen über viele Themen: das Leben mit Long COVID, Queerness und Transidentität, Care-Arbeit, Krankheit und Behinderung, Verliebtsein.
Reich an Referenzen
Es ist zudem eine intensive Auseinandersetzung mit den Gedanken intellektueller Vorreiter*innen, die Theorien zu diesen Themen (weiter)entwickelt haben. Darunter sind zum Beispiel die Essayistin und Dichterin Anne Boyer, die Kulturkritikerin Susan Sontag oder die Autor*in und Aktivist*in für Behindertenrechte Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha.
Mitunter sind die Verweise derart zahlreich, dass es in Summe etwas von „Referenzwut“ haben mag, wie die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein auf Instagram in einer Leseempfehlung schrieb. Trotzdem bleibt das Buch zugänglich und barrierearm, sofern mensch sich nicht allein schon vom Vorhandensein vieler Fußnoten abschrecken lässt. Diese nutzt Matter vor allem, um anspruchsvolle Konzepte in einfachen Worten zu erläutern sowie englischsprachige Zitate und Ausdrücke zu übersetzen.
Warten auf den nächsten Crash
Im Kern ist Muskeln aus Plastik das Porträt einer Lebensphase, die durch die Auseinandersetzung mit zwei Herausforderungen geprägt ist, mit Long COVID und Matters Transition. Bezüglich ersterer ist bereits die Existenz des Buchs Papier gewordene Hoffnung, denn wäre Matters Erkrankung nicht besser geworden, müsste die Welt noch Jahre, vielleicht für immer, auf dieses Buch warten.
Muskeln aus Plastik leistet einen wichtigen Beitrag zur Frage, wie es sich anfühlt, chronisch krank zu sein. Die sich im Buch zeigende Phänomenologie des Krankseins widersetzt sich dem naturalistischen Krankheitsbild, mit dem sich die moderne Medizin so wohlfühlt: Es kam ein Schlag von außen, eine Genmutation, ein Bakterium – der Knochen brach, der Krebs wuchs, die Lunge wurde tuberkulös.
Doch bei chronischen Krankheiten, mit denen Betroffene lernen müssen umzugehen, meist ein Leben lang, reichen diese Erklärungen nicht aus, selbst wenn es sie gibt (was bei Long COVID nicht der Fall ist). Weil sie nicht erklären, wie es sich anfühlt, mit dieser Erkrankung zu leben. Zu wissen, welcher Rezeptor, welches Gen, welcher Botenstoff für die Misere verantwortlich ist, sagt wenig bis nichts darüber, wie chronische Erschöpfung einen zuvor als normal wahrgenommenen Alltag verändert.
Wie jede Belastung plötzlich abgewogen werden muss; wie Freund*innenschaften und Beziehungen ungewohnt einseitig werden; wie es sich anfühlt, etwas, wie Selma Kay Matter sagt, „mit nennenswerter Wahrscheinlichkeit das vorerst letzte Mal“ zu tun, denn der nächste Crash kommt bestimmt. Wie es ist, eine Diagnose zu haben, die viele nicht kennen oder verstehen, für die es keine eindeutig wirksame Therapie gibt, zumindest nicht in Form von Medikamenten, und deren Existenz einige sogar anzweifeln.
Was mich zu einer besseren Ärztin machte
Dieses Wissen ist essentiell, um die Lebensrealität chronisch Erkrankter zu verstehen. Doch es lässt sich unglaublich schwer vermitteln. Ich bin selbst Ärztin und obwohl mein Studium sehr modern war – es gab zum Beispiel Kurse zur Kommunikation mit Patient*innen, die bloß vorgeben, krank zu sein – stellte im Hörsaal oder Seminarraum keine*r die Frage, wie sich Erkrankungen für Patient*innen anfühlen. Ich habe erst gelernt, das zu fragen, als ich selbst krank wurde und über die Jahre merkte, wie diese Erfahrung mich zu einer besseren Ärztin machte. Seitdem lässt sie mich nicht mehr los.
Wie können wir solches Erfahrungswissen an Gesundheitspersonal vermitteln, ohne alle gezielt erkranken zu lassen, was nicht nur praktisch schwierig ist, sondern sich vor allem ethisch verbietet? Bücher wie Muskeln aus Plastik helfen dabei. Wir ringen mit Matter nach Worten für Schmerz, suchen sie in uns selbst und in Texten anderer Autor*innen. Doch jedes Mal, wenn wir kurz vorm Verstehen sind, entfleucht es uns wieder.
Wir traumwandeln mit Matter durch einen IKEA und über uns schwebt die Frage, ob dieser Ausflug nicht zu anstrengend ist, wo der Ausgang ist und warum wir überhaupt hier sind. Wir loten mit Matter aus, wie viel Fürsorge wir brauchen, ob und wie wir sie annehmen können, wenn wir nichts zurückgeben können.
Häufig nehmen wir, vielleicht sogar intuitiv, Schmerzen und Beschwerden erst dann ernst, wenn wir sie selbst haben. So wie wir bei der letzten Erkältung unserer Partner*innen, Freund*innen und Kinder ihr Gejammer erst dann wirklich nachvollziehen konnten, bis uns das Virus wenige Tage später selbst ereilte. Nur half uns hier das Wissen um die vergangenen, ausgeheilten Erkältungen, daran zu glauben, dass auch diese Erkältung vergehen wird. Es sei denn, sie wird zu einem postviralen Syndrom, wie eben bei Long COVID.
„Wir müssen offen dafür sein, uns von dem, was wir nicht wissen oder fühlen können, bewegen zu lassen.“
Bei chronischen Erkrankungen ist die Zeitlichkeit per Definition eine andere und ein Ende nie in Sicht, zumindest nicht mit Sicherheit. Das macht die Nachvollziehbarkeit für (Noch-)Gesunde so schwierig. Matter verdeutlicht das an der Reflexion des Umgangs mit chronisch kranken Mitschülerinnen während seiner Schulzeit. Wie der Schmerz und die Erschöpfung der am Chronic Fatigue Syndrom (CFS) Erkrankten von außen übertrieben, überspannt wirkt und erst die eigene Erfahrung mit dieser Erkrankung zeigt, dass es wirklich genau so schlimm gewesen sein muss.
Matter beschreibt und erklärt, doch einfühlen müssen wir uns als Lesende selbst. Eines der im Buch verwendeten Zitate, es stammt von der Geschlechterforscherin Sara Ahmed, beschreibt das Problem gut: „Wir müssen offen dafür sein, uns von dem, was wir nicht wissen oder fühlen können, bewegen zu lassen.“ Mittels Sprache lässt sich versuchen, chronische Erkrankungen zu begreifen, aber es geht nicht ohne unsere Bereitschaft, uns wahrhaft darauf einzulassen.
Manchmal frage ich mich, ob Gesunde chronisch Kranke nicht verstehen wollen, weil sie sich dann wirklich auf Care-Arbeit einlassen müssten. Weil sie sich nicht mehr hinter einem unsensiblen „Reiß dich zusammen!“ verstecken könnten. Ihr Leben in der sogenannten Leistungsgesellschaft ist schließlich anstrengend genug, sie reißen sich doch auch tagtäglich zusammen, mögen sie sich denken und das auf andere projizieren.
Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Matter sich mehr mit Care-Fragen auseinandersetzt, als seine Long-COVID-Symptomatik langsam abklingt. Als Fürsorge nicht mehr „nur“ überlebensnotwendig für ihn selbst ist, sondern aufgrund von mehr Kraft und Energie Wechselseitigkeit möglich wird. Denn es ist leichter, Fürsorge anzunehmen, wenn sie keine Einbahnstraße ist, sondern wir sie in absehbarer Zeit zurückgeben können.
Fürsorge als Machtkritik
Mit dem Aufbau von „Care Webs“ (Fürsorge-Netzen) setzt sich Selma Kay Matter auch auseinander, theoretisch wie praktisch. Solche Netze beruhen nicht auf streng neoliberaler Reziprozität, sondern sorgen dafür, dass alle bekommen, was sie brauchen und keinen Druck verspüren, mehr zu geben, als für sie möglich oder gesund ist.
Dabei geht es um solche Fragen: Wie schaffen wir eine Welt, in der wir uns Fürsorge nicht verdienen müssen, zum Beispiel, indem wir in unserer Krankheit noch möglichst begehrenswert sind, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass andere sich um uns kümmern wollen? Wie verinnerlichen wir, in Matters Worten, dass „gegenseitige Fürsorge […] Liebe als machtkritische Praxis [ist]“? Wie wenden wir diese Machtkritik auf unsere Sozial- und Gesundheitssysteme an und krempeln sie von Grund auf um?
Wenn wir Care-Arbeit ernst nehmen, müssen wir die Gesellschaft verändern. Da ist es doch einfacher, lässt sich zynisch und mit Blick auf reaktionäre Gesellschaftstrends einwenden, chronische Krankheit als das Andere, nicht Verstehbare, Fremde abzustempeln und wegzuschieben. Wer das aber nicht will und konstruktiv an die Sache herangehen mag, könnte, als ersten Schritt, Muskeln aus Plastik lesen. Es ist auch ein gutes Geschenk, gerade in diesen Zeiten. ◆
Selma Kay Matter: Muskeln aus Plastik, Hanser Berlin, 2024.
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