Auf der Couch: „Schattenmund“ von Marie Cardinal
Von Psychoanalyse erzählen // In der Reihe „Durch!“ schreibt die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein Kurzrezensionen zu Büchern, mit denen sie durch ist.
Vor rund einem Jahrzehnt – oder vielleicht ist es noch länger her – habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu jedem Buch, das ich gelesen habe, eine kleine Besprechung zu schreiben. Sie dient mir vor allem als Erinnerungshilfe, aber auch als Mittel, mir bewusst zu machen, was ich gelesen habe.
Ich lese Bücher als Autorin und Privatperson, nicht als Feuilletonistin. Meine Kurzrezensionen, wie ich sie unbeholfen nenne, sind daher bloß ungeordnete Gedanken, die ich vor allem für meine Instagram-Follower aufschreibe. Hier auf vliestext finden sie nun auch ein Publikum.
Zuweilen fühlt sich dieser Akt des Nachdenkens und Schreibens wie eine Pflicht an, mit der ich einfach nur „durch“ sein möchte. Zum Glück aber nur zuweilen.
Alle Beiträge der Reihe „Durch!“ finden sich hier.
#2 Marie Cardinal: Schattenmund
In diesem Roman, der in den Siebzigern in Frankreich ein Bestseller war, unterzieht sich die Erzählerin, geplagt von unerklärlichen Blutungen und Halluzinationen, über sieben Jahre lang einer Psychoanalyse. Klingt super spannend und war für mich natürlich, die der Psychoanalyse sehr zugetan ist, Grund genug, das Buch zu kaufen – second hand, wird nicht mehr verlegt.
Richtig packen wollte mich die Lektüre dann allerdings nicht, nicht zuletzt, weil ich mir mehr vom Untertitel „Roman einer Analyse“ versprochen hatte. Vorweg: Über die Sitzungen, die Beziehungsdynamik zwischen Erzählerin und Behandler sowie über die therapeutische Arbeit wird nur spärlich Auskunft gegeben. Man mag es damit begründen, dass Psychoanalyse in den Siebzigern vor allem auf der berühmt-berüchtigten Couch stattfand, auf der Patient*innen vorwiegend frei assoziierten. Und dennoch lässt sich selbst über dieses klassische Setting vermutlich mehr sagen als das, was die Erzählerin den Leser*innen mitteilt.
Wo sind Irrungen und Wirrungen?
So wirkt der Roman weniger wie eine psychoanalytische Behandlung, die zwischen zwei Personen realisiert wird, als vielmehr wie eine reine Selbstanalyse. Die Erzählerin lässt wichtige Erlebnisse und Stationen ihrer Kindheit Revue passieren, oft so minutiös, dass es einen schrecklich ermüdet – ich sehe zum Beispiel im Hinblick auf Thema und Konzeption des Buches keinen begründeten Anlass, mehrere Seiten lang über den floralen Bestand eines Gartens zu referieren. Zunächst werden diese Ereignisse geschildert, danach von der Erzählerin gedeutet. Zwar wird die Protagonistin nicht müde zu betonen, wie schwierig sich eine Psychoanalyse darstellt, wie oft man ratlos ist, nicht von der Stelle kommt, sich in Annahmen verirrt etc. Allerdings bleibt all das zumeist reine Behauptung. In der Regel wird das Erlebte sogleich „richtig“ eingeordnet, wenn nicht sogar gänzlich verstanden, auf jede Frage wird eine Antwort gefunden usw.
All die Irrungen und Wirrungen, der Frust und die Hoffnungslosigkeit, die man in einer Therapie zuweilen empfindet, das Herumfragen, ohne jemals zu einer Antwort oder gar Lösung zu gelangen, kommen in dem Roman kaum zur Geltung. Zuweilen liefert das Buch immer wieder interessante Einsichten, die sich dann aber mit recht zähen Passagen beharrlich abwechseln. So bietet die Lektüre ebenso viel Anreiz zum Lesen wie Gründe, es wegzulegen. Es handelt sich in meinen Augen keinesfalls um einen schlechten Roman. Allerdings wurde viel Potenzial verschenkt. ◆
Marie Cardinal: Les mots pour le dire (deutscher Titel: Schattenmund), Grasset, Paris, 1975.
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Zur Autorin
Sofie Lichtenstein (sie/ihr) ist Schriftstellerin, Lektorin und Herausgeberin. 2023 erschien ihr Buch Bügeln – Protokolle über geschlechtliche Handlungen. Alle Beiträge ihrer Reihe „Durch!“ finden sich hier.
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