Kinder der Burg: „Schlesenburg“ von Paul Bokowski und das Wesen des Erinnerns
Mit „Schlesenburg“ hat Paul Bokowski eine Liebeserklärung an seine Kindheit geschrieben. Der Roman ist auch eine Sozialstudie über das Leben polnischer Geflüchteter im Deutschland der 80er-Jahre.
Text anhören (vom Autor vorgelesen):
In Autobiografien mag ich einen Teil selten: Kindheitserinnerungen. Vor allem solche, die wirken, als hätten ihre Autor*innen schon als Kinder genauestens Tagebuch geführt, ein fotografisches Gedächtnis und immer ein Aufnahmegerät oder Protokollant*innen dabeigehabt. Wie könnte man sonst all die Details aus Kindertagen noch wissen?
Vielleicht war meine eigene Kindheit zu ereignisarm, im Sauerland kommt das schon mal vor, oder ich nicht aufmerksam genug, um mehr verstehen und erinnern zu können. Jedenfalls hinterlassen autobiografische Kindheitserinnerungen bei mir häufig das Gefühl, als ob jemand ihr*sein Aufwachsen überhöht und dramaturgisch ausstaffiert – was der Glaubwürdigkeit der gesamten Lebensgeschichte schaden kann. Für manche mögen bestimmte Verzerrungen akzeptabel sein und zum üblichen Spiel von Fakt und Fiktion in Autobiografien und Lebensläufen gehören, ich habe damit oft Schwierigkeiten.
Schlesenburg, der kürzlich erschienene Debütroman von Paul Bokowski über sein Aufwachsen in einer Sozialbausiedlung, ist glücklicherweise keine Autobiografie im eigentlichen Sinne. Als Roman sei Schlesenburg semi-autobiografisch angelegt und eine Liebeserklärung an seine Kindheit, sagt Bokowski in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Durch intensive Gespräche mit seinen Eltern und Bekannten habe er vieles rekonstruieren können. Gegenüber vliestext ergänzt er noch, dass zwar alles abstrahiert sei, die Grundstrukturen des Buchs aber der Wahrheit entsprächen.
Für mich ist diese Information wichtig, weil sie Irritationen ausräumt; anderen Leser*innen mag es ähnlich gehen. Als ich nämlich mit Schlesenburg anfing, hatte ich zunächst die oben beschriebenen Schwierigkeiten, weil der Roman sehr autobiografisch anmutet. Es ist eine Erzählung in stark ausgeprägter Ich-Form, zumal eine, in der der Name des (männlich markierten) Erzählenden nie genannt wird und häufig von etwa „Mutter“, „mein Onkel“ oder „unsere Siedlung“ die Rede ist. Das macht es schwer, zwischen den Subjekten Erzähler*in und Autor*in zu unterscheiden, was bei Romanen ja schon mal wichtig sein kann. Zudem ist Schlesenburg durch ein sehr dichtes, mitunter opulentes Beschreiben gekennzeichnet. In der Summe lassen sich diese Eindrücke für mich leicht dahingehend deuten, dass es Fakten sein sollen.
Paul Bokowski gelingt es sprachlich schnell, bei Leser*innen den Eindruck zu erwecken, als habe er all das Erzählte selbst erlebt, als sei es im Sommer des Jahres 1989 und darüber hinaus genau so gewesen – und zwar wirklich genau so.
So hatte ich beim Lesen etwa das Gefühl, die Wellengardine Barbarella fühlen oder die „dicke schwitzende Kackwurst“, die auf einem Auto liegt, riechen zu können. Dieses Gefühl stellt sich besonders dann ein, wenn man als Leser*in, wie der Erzähler (und Bokowski als Autor), selbst ein Kind der 80er- und 90er-Jahre ist und vielleicht manches aus eigenem Erleben noch weiß oder sich dank Schlesenburg wieder daran erinnert. Der Roman könnte Verdrängtes und vermeintlich Vergessenes neu beleben.
Zu wissen, es handelt sich um eine Fiktionalisierung von wirklich Erlebtem, hilft mir hier als Leser sehr. Das Erzählte ist in gewisser Weise wahr und gleichzeitig auch nicht. Es soll ein Roman sein, keine faktentreue Autobiografie einer Kindheit. Für manche mag das nach Erbsenzählerei klingen, mir erleichtert dieses Vorwissen das Lesen. Es macht den Genuss der Geschichte möglicher; es rückt die, sich hier besonders aufdrängende, Frage nach dem Wie-kann-man-das-alles-so-genau-noch-wissen in den Hintergrund.
In der Burg
Wovon erzählt Schlesenburg? Zum einen erzählt der Roman vom Erleben des (prekären) Zuhauses und seiner Umgebung aus Kindersicht, mit einem neunjährigen Jungen als Hautfigur. Paul Bokowski nimmt uns mit in das Abenteuerland „Schlesenburg“, eine umgangssprachlich so genannte, Anfang der 80er-Jahre gebaute Sozialbausiedlung in der Nähe von Mainz, mit 60 vor allem aus Polen stammenden Familien. Bokowski zieht uns rein in „die Burg“, wie es im Buch oft heißt, in die ausgebrannte Wohnung der Frau Galówka, in die Suche nach dem verschwundenen Darius oder in den Zoff mit den fiesen Baranowskis.
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Es geht um Freund*innenschaft und Rivalität unter Kindern, das Liegen im Freibad und das Sitzen in Kirchenbänken, um die Gefahr durch Post vom Amt und Hakenkreuze in der Siedlung, um das Aufbegehren gegen Väter und, im feinen Anriss, um das Gewahrwerden der eigenen sexuellen Orientierung. Ganz wesentlich geht es auch um etwas, das Bokowski „Hyperintegration“ nennt, ein Abkapseln der Kinder von der polnischen Herkunft. Das äußere sich besonders darin, dass die Kinder kein Polnisch lernen sollten. Es sei darum gegangen, so gut es geht „deutsch“ zu sein.
Paul Bokowski erzählt intim und zärtlich, manchmal auch derb, mit Sinn für die kleinen Situationen, für Körpersprache und Subtexte des Gesagten, überhaupt für Dialoge, unter Kindern und zwischen Kindern und Erwachsenen, vor allem Eltern. Bokowski schreibt auch schelmisch und mit Witz; seine Arbeit als Kurzgeschichten- und Lesebühnenautor ist Schlesenburg anzumerken. Die Szene mit dem Jungen, der im Krippenspiel wiederholt nicht mehr als ein „Ja, genau!“ zu sagen hat, ist eine meiner Lieblingsstellen im Roman.
Flucht und Papierfabrik
Verknüpft findet sich das mit einem gelegentlichen Blick auf dominanzgesellschaftliche Machtordnungen aus Sicht osteuropäischer, insbesondere polnischer Lebenswelten, inklusive Ressentiments der Nationalitäten untereinander. Etwa dann, wenn es um die elterliche Arbeit in einer Papierfabrik und die kapitalistische Ausbeutung und den Zerschleiß zugewanderter Arbeitskräfte in der westdeutschen Industrie geht.
In Teilen ist Schlesenburg auch ein Roman über Klassismus in Verschränkung mit Diskriminierung von Geflüchteten und Migrant*innen aus Osteuropa und Russland in den 80er- und 90er-Jahren.
Es sind nicht die Hauptthemen des Buchs, aber sie sind da und ziehen eine gewisse Härte ein, was der Erzählung guttut. Sie hat auf diese Weise mehr zu bieten als „nur“ Kindergeschichten. Zu dieser Härte gehört auch ein Erzählstrang, der bisher noch nicht zur Sprache kam, für das Buch, und für meine Meinung vom Buch, aber wichtig ist: Die Flucht des Onkels Staszek aus Polen im Jahr 1989. Die Geschichte seiner Flucht ist für mich der rote Faden im Roman. Sie hat mich am Lesen gehalten und ich hätte mir gewünscht, dass sie etwas früher und deutlicher etabliert worden wäre.
Wie oben schon anklingt, ist eine gewisse Opulenz im Beschreiben ein wesentliches Stilmerkmal und eine, je nach Vorliebe bei Leser*innen, Stärke von Schlesenburg. Dieses Merkmal kann allerdings auch dazu führen, dass sich, wegen all der hervorgerufenen Bilder von Figuren und Orten, erst relativ spät erkennen lässt, wo im Erzählten Handlungslinien sind, die beim Lesen Zugkraft für den ganzen Roman entwickeln. Die Geschichte von der Flucht des Onkels ist so eine Linie und sie belohnt geduldiges Lesen mit einem filmreifen Ende. Für einen so erzählstarken Roman wie Schlesenburg ist die, vielleicht nur in meinen Augen, fehlende Zugkraft zu Beginn etwas schade.
Erinnern als Herausforderung
Allerdings mag sich dieses eher spannungsarme Einsteigen in die Erzählung dadurch erklären lassen, dass es in Schlesenburg auch darum gehe, wie Erinnern funktioniert, bei Kindern und bei Erwachsenen, wie Bokowski im DLF-Interview sagt. vliestext gegenüber führt er noch aus: Erinnerungen seien häufig sprunghaft, nicht stringent und abhängig von den Umständen, von Raum und Zeit. Könne man sich überhaupt richtig an eine Situation aus der Kindheit erinnern, wenn man sich ihr als Erwachsener zum Beispiel nur über ein Foto wieder nähern kann? Die Zeitsprünge im Roman sind für Bokowski ein wichtiges Stilmittel, um dieses Wesen des Erinnerns und die Schwierigkeiten, die damit verbunden sein können, auszudrücken.
In Schlesenburg können Leser*innen dem Autor in gewisser Weise beim Erinnern zuschauen und sich so vielleicht fragen, inwiefern sie sich selbst noch an eigene Kindheiten erinnern – und wie sie das machen. Oder ob sie das überhaupt wollen. Sich an bestimmte Vergangenheiten nicht mehr erinnern zu können, hat ja auch was für sich.
Schlesenburg ist in meinen Augen nicht nur ein gelungenes Debüt, sondern auch ein besonderer Roman. Wie der Autor hier Kleines mit Großem, die Welt von Kindern mit der Welt von Erwachsenen verwebt, wie er Kot im Hof einer rheinhessischen Sozialbausiedlung in narrative Nähe zum Zusammenbruch der Sowjetunion stellt, ist souverän und beeindruckend. Ich hoffe auf weitere Romane von Paul Bokowski.
Paul Bokowski: Schlesenburg, btb, München, 2022. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar. Hinweis zum Titelbild dieses Textes: Im Hintergrund ist nicht die im Roman beschriebene „Schlesenburg“ zu sehen, sondern die Schillerpark-Siedlung in Berlin.
Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) gefällt an Schlesenburg auch, dass der Roman ihm Einblick in Lebenswelten osteuropäischer Migrant*innen zu Zeiten seiner eigenen Kindheit und Jugend verschafft.
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