„Ohne Polizei. Nicht Polizei. Unpolizei“: Kriminalromane und Polizeikritik
Der Kriminalroman „Hausbruch“ von Till Raether lässt sich als Polizeikritik lesen. Es braucht mehr Held*innen wie Kommissar Adam Danowski, gerade in der Polizei.
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Kriminalgeschichten zu erzählen stelle ich mir ziemlich schwer vor. Nicht so sehr, weil sich Autor*innen Abscheuliches, Tatmotive oder Überführungen ausdenken müssen. Und auch nicht so sehr, weil es Originalität, sollte es sie denn brauchen, im Krimiland Deutschland nicht leicht haben dürfte. Es gibt halt sehr viel Krimikost, seit langem, auch im Fernsehen – und da gefühlt rund um die Uhr. Deutschland ist, zumindest in dieser Hinsicht, ein Polizeistaat.
Kriminalgeschichten zu erzählen stelle ich mir vielmehr deswegen schwer vor, weil sie häufig in der Polizeiwelt spielen, ihre Figuren somit oft Polizist*innen sind und eine eher distanzlose Polizeifreundlichkeit zur Tradition des Krimi-Genres gehört. Die Institution Polizei, oder genauer: die Institution Kriminalpolizei, ist ständige Protagonistin und in der Regel als Heldin lesbar.
Sie mag verschrammt, desillusioniert, im Burnout, depressiv und nicht immer legal unterwegs sein, aber letzten Endes funktioniert sie als Ganzes in den meisten Erzählungen nach wie vor so, wie sie es ihrer sozialen Rolle nach soll und wie sie sich selbst gern sieht. „Die Polizei, dein Freund und Helfer“, Krimis als PR-Maschine. Polizei ist cool.
„Copagenda“ nennen das manche, als „Schule der Empathie“ für die Polizei und ihren Blickwinkel bezeichnet es die Literaturwissenschaftlerin Sandra Beck.
Probleme werden da meist als individuelle Verfehlungen einzelner Polizist*innen oder Gruppen von Polizist*innen erzählt, nicht als strukturelle Probleme des Systems Polizei an sich. Ungeheuerlich ist das, gerade angesichts der in letzter Zeit öffentlich gewordenen Missstände, Skandale und antidemokratischen Umtriebe in der Polizei, nicht nur in den USA, auch in Deutschland.
Beispiele hierfür sind der NSU 2.0, rechtsextreme Chatgruppen und Netzwerke, die möglicherweise bis in die Bundestagspolizei hineinreichen, aufgelöste Spezialeinsatzkommandos, der Fall Oury Jalloh, die Praxis des Racial Profiling oder die seehoferlich verhinderte Studie über Rassismus in der Polizei.
Wäre ich Krimi-Autor, würde mir solch ein narratives Hintergrundrauschen sehr zu schaffen machen und ich wäre wohl nicht in der Lage, diese Themen in meinen Geschichten auszublenden. Vielleicht würde ich auch darüber nachdenken, keine Krimis mehr schreiben zu wollen, weil sich empirische Wirklichkeit und fiktionale Erzählung, aufgrund von Gepflogenheiten des Genres und Publikumserwartungen, zu sehr beißen würden.
Kripo auf Kur
Till Raether, der Autor des unten besprochenen Romans Hausbruch, dem neuesten Band aus der Danowski-Reihe, hat sich anscheinend ähnliche Gedanken gemacht. Das deutet nicht nur seine Danksagung im Buch an, sondern auch sein selbst- und genrekritischer Text „Die Verantwortung der Krimi-Autor*innen: Einige Forderungen an ein obrigkeitshöriges Genre“, der kürzlich beim Online-Feuilleton 54books erschien.
Dem Text ist Raethers Unbehagen mit den Erzählmustern des Genres und dessen Verkaufsinszenierung, zum Beispiel in der Form, Lesungen in Gerichtssälen oder Polizeiwachen abzuhalten, spürbar anzumerken. Von den sechs Danowski-Bänden ist Hausbruch für ihn
„[…] vielleicht zum ersten Mal ein Kriminalroman in dem Sinne, dass er nicht ästhetisch aufgeladen und getragen wird durch die Institution Polizei.“
Und weiter:
„Ich denke, ich muss die Leser*innen und mich selbst von der Polizei wegschreiben. Das versuche ich in Hausbruch. Entlang der Linien und Grenzen, die das Genre vorgibt.“
Dieser Einblick in Till Raethers Überlegungen hat meine Lektüre von Hausbruch vorgeprägt und ich werde einige Aspekte nach der Vorstellung des Romans wieder aufgreifen. Eine Spoiler-Warnung ist angebracht: Die folgenden Abschnitte geben nicht alle Spannungshöhepunkte des Romans preis, hier und da müssen aber zentrale Handlungselemente Erwähnung finden, die im Kontext obiger Verortung wichtig sind. Wer das umgehen möchte, sollte ab der Zwischenüberschrift „Der polizeikritische Krimi“ weiterlesen.
Hausbruch ist der sechste Band der seit 2014 laufenden Reihe über den in Hamburg und Norddeutschland ermittelnden Kriminalkommissar Adam Danowski. Er ist Anfang 50, seit der 11. Klasse mit derselben Frau zusammen, Vater von zwei Teenagerinnen, hochsensibel, chronisch depressiv und will nun die Polizei nach 30 Berufsjahren und vielen leidvollen Erfahrungen verlassen. Zumindest entschließt er sich zunächst dazu, während eines Aufenthalts in einem Kurzentrum für Psychosomatik an der Ostsee, wo der Roman hauptsächlich spielt.
Danowski ist dort, traumatisiert, nachdem er in seinem letzten Fall, bei dem wieder mal viel schiefging (ein Fall ist hier oft ein Fail), aus nächster Nähe mit ansehen musste, wie ein zu Unrecht Beschuldigter von einem Scharfschützen der Polizei erschossen wurde: per Kopfschuss.
Danowski macht Bewegungstherapie, öffnet sich in Gruppengesprächen, wandert durch Dünen, geht tanzen und findet beim Mittagessen in der Gruppe Gefallen am Plätschern des Banalen. Eine ganz zarte, wenn man denn bei Depressionskranken davon sprechen kann, Leichtigkeit des Seins stellt sich bei ihm ein, auch, weil er jetzt weiß, dass er lieber kein Polizist mehr sein möchte.
„Neues Leben. Vielleicht ganz was anderes. Außerhalb der Polizei. Ohne Polizei. Nicht Polizei. Unpolizei.“
Kriminell wird es, als Mareike Teschner zu den Gruppengesprächen hinzustößt und nicht nur durch ihren bandagierten Arm, sondern auch durch ihr verängstigtes Verhalten auffällt. Ohne es zu wollen, er ist ja krankgeschrieben und auf Kur, erfährt Danowski, dass Mareike Teschners Beziehung zu ihrem Ehemann, mit dem sie in einem Haus im titelgebenden Hamburger Stadtteil Hausbruch lebt, von Kontrollwahn und sexualisierter Gewalt seinerseits geprägt ist und er sie vergewaltigt.
Er hat sich auch bei ihr in der Kurklinik einquartiert, überwacht sie fortwährend und gerät schließlich, besitzergreifend und gewalttätig wie er ist, mit Danowski aneinander. Es schleicht die Frage heran, wer bei den Teschners wen zuerst töten wird, er sie oder sie ihn, und in welche Bredouille Danowski das bringt.
Saskia kriecht in die Schmierkäseverpackung
Dieser Konflikt ist nicht nur spannend, sondern durch die klischeebrechende Anlage der Figur Mareike Teschner und ihr Zusammenspiel mit Danowski auch gesellschaftlich hochrelevant. Das gilt gerade in Hinblick darauf, wie unzureichend die Polizei in ihrer Alltagspraxis mit Fällen sexualisierter Gewalt gegen Frauen teils immer noch umgeht.
Daneben gefällt mir an Hausbruch vieles, was ich schon bei den vorherigen Bänden Fallwind und Unter Wasser mochte. Till Raether ist ein Meister in der Beschreibung unangenehmer, krampfiger Gesprächssituationen samt Subtext und Machtspielen. Und bei Danowski wirken viele Gespräche und Interaktionen immer irgendwie unangenehm, akward würden heute wohl manche sagen. Besonders auf dienstliche Gespräche trifft das zu, auch unter Kolleg*innen, und ganz besonders auf die mit Vorgesetzten, wie Knud Behling oder Martin Kienbaum, die „sprechende Lederjacke“. Dazu gesellt sich in diesem Band noch Holm Fleischer, ein weiterer Unsympath, der auch auf Kur ist und Danowski übel mitspielt.
Wenn Raether Dinge schreibt wie „Jetzt hörte er, wie die nickten“ oder „Saskia, die rot wurde und versuchte, in ihre Schmierkäseverpackung zu kriechen, mit Stress konnte sie nicht gut umgehen“, dann ist das sprachlich toll und nachfühlbar.
Der Roman ist voll von solchen Mikrobeschreibungen, die ihm viel geben und mich als Leser immer wieder umblättern lassen, weil ich mehr davon will. In ihrer Summe mögen sie sich auch als Kommentar zum Kur- und Therapiebetrieb lesen lassen, ähnlich wie in Unter Wasser die Schwimm- und Freibadkultur studiert wird.
Ich habe beim Lesen von Danowski-Bänden häufiger das Gefühl, das Krimi-Setting könnte nur Vehikel sein, eigentlich geht es um anderes. In der Rückschau, wenn das Buch durchgelesen, der Fall mehr oder weniger gelöst, das Abenteuer mehr oder weniger durchstanden ist, rückt dieses Gefühl in den Hintergrund und der Kriminalroman erscheint wieder mehr als ebensolcher. Während der Lektüre aber fühlt es sich offener an. Manche Leser*innen mögen das vielleicht weniger und sich dann und wann mehr Zug im Plot wünschen, ich zumindest mag es hier sehr.
Held auf Escitalopram
Womöglich denkt bei der Figur Adam Danowski kaum jemand an diesen schwierigen Begriff, doch passt er auf gewisse Weise schon: Held. Danowski lässt sich als Held für Menschen lesen, die mit anderen Menschen meist nicht können, für Leute, die das Gefühl haben, nichts gelänge ihnen, selbst, wenn es dann, irgendwie und mit reichlich Federlassen, doch gelingt.
Danowski ist ein Held für depressionskranke Menschen, für solche, die meinen, sie taumelten durch eine Welt, die sie gegen sich wähnen und in die sie nicht hineinpassten, „Leben als Vorahnung der nächsten Niederlage”. Leben mit Escitalopram, einem Antidepressivum, das auch Danowski nimmt. Till Raether hat über seine Erfahrung mit der Krankheit Depression ein Buch geschrieben und auch der Danowski-Reihe ist anzumerken, dass sich der Autor mit dem Thema Depression auskennt.
Es mag überinterpretiert sein, aber das Gefühl, das Leben gegen sich zu haben, zeigt sich bei Adam Danowski mitunter auch darin, wie er mit physikalischen Abläufen der Welt ringt. In Fallwind bleibt er in einer Schafsherde stecken, in Unter Wasser setzt ihm bei einer Verfolgungsjagd der Ritt durch eine Wasserrutsche zu und in Hausbruch wird er zum Spielball der Ostsee, als er versucht, per Paddelboard eine Leiche loszuwerden.
Danowskis Stolpern durch die Widrigkeiten der Existenz macht ihn zu einer sehr hineinfühlbaren Hauptfigur, gerade auch für Leser*innen, die Krimi-Formate sonst eher meiden, weil sie fürchten, mit toxischer Männlichkeit aufgeladene Superbullen bei ihren Streifzügen begleiten zu müssen.
Der polizeikritische Krimi
Besonders die Männerfiguren, die Polizisten sind es, die verhindern, dass ich Hausbruch als, wie oben beschrieben, „Schule der Empathie“ für die Polizei und ihre Perspektive lesen könnte. Durch sie erscheint die Polizei hier weitgehend als zwischenmenschlich kalter Raum, der Menschen zerschleißt. Wenn Hausbruch eine Empathieschule für etwas ist, dann für Betroffene sexualisierter Gewalt und dafür, was die Institution Polizei, in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit, mit Menschen anstellen kann, die für sie arbeiten.
Wenn Till Raether sagt, er will sich und die Leser*innen von der Polizei „wegschreiben“, kann Hausbruch als gelungener Schritt auf dem Weg dahin gelten. Auch der mentale Bruch zwischen Adam Danowski und seinem Beruf, oder vielmehr der Institution, die ihm diesen Beruf ermöglicht, wird im Roman sehr deutlich. „Ohne Polizei. Nicht Polizei. Unpolizei.“ In seinem Text für 54books verwendet Raether den Begriff nicht, aber mir scheint, er passt hier ziemlich gut: polizeikritisch.
Hausbruch lässt sich als polizeikritischer Kriminalroman verstehen. Einige Themen der Polizeikritik blitzen im Buch auch explizit auf, vor allem im Zusammenhang mit Holm Fleischer. Er schwadroniert von „blue lives matter“ und äußert rassistische Einstellungen über Rumän*innen, wogegen Danowski jeweils anredet. Zudem trägt der Roman, es klingt oben schon an, männlichkeitskritische Züge, was für polizeikritische Fragestellungen auch von Belang ist. Maskulinismus, wie er sich zum Beispiel in der Figur Kienbaum oder bei Mareike Teschners Ehemann zeigt, kommt nicht gut weg. Und dass sich Danowski geschlechterinklusiver Sprache annähert, lässt sich ebenfalls männlichkeitskritisch deuten.
In die Lücke
Sofern „polizeikritischer Krimi“ oder „polizeikritischer Kriminalkommissar“ nicht Widersprüche in sich sind, bisherige Genre-Traditionen erwecken ja den Eindruck, bietet das Feld der Polizeikritik vielleicht Anstöße, wie es mit der Danowski-Reihe weitergehen könnte.
Themen wie Korpsgeist, Polizeigewalt, struktureller Rassismus oder Rechtsextremismus in Sicherheitsbehörden warten ja förmlich darauf, in der Breite von Krimi-Autor*innen verhandelt zu werden.
Ein solcher Bruch mit der Obrigkeitsnähe des Genres vergrätzt womöglich einige Leser*innen oder Zuschauer*innen und kostet Sympathien bei der Polizei. Gleichzeit könnte die Nische „polizeikritischer Krimi“ aber auch neue Sichtbarkeit schaffen und Menschen anziehen, die sonst unerreichbar für ein zu polizeifreundliches Genre sind. Noah Sow hat 2020 mit ihrem Krimi-Debut Die Schwarze Madonna gezeigt, wie Anti-Rassismus und Polizeikritik sogar im Rahmen eines „Heimatkrimis“ funktionieren können.
Mit Blick auf TV-Krimis zieht die Kulturjournalistin Anne Haeming in dem Deutschlandfunk-Hörspiel „Im Asphaltdschungel: Bullen, Cops und Commissarios in der populären Kultur“ (2021) eine Bilanz, die ähnlich auch für Kriminalromane gelten dürfte:
„Es gibt momentan 22 ,Tatort‘-Teams und vier ,Polizeiruf‘-Teams. Das ist eine ganze Menge. In keiner dieser Konstellationen taucht als fixe Funktion jemand auf, der sich genau um diese internen, kriminellen, rassistischen, diskriminierenden Strukturen kümmert. Da ist, glaube ich, genug Raum, um daran etwas zu ändern.“
Auch die Danowski-Reihe, von der übrigens ein Band schon fürs Fernsehen verfilmt wurde, mit weiteren Verfilmungen dürfte zu rechnen sein, könnte daran etwas ändern. Ob sich das mit Till Raethers Ziel des Wegschreibens von der Polizei vereinbaren lässt, ist natürlich eine andere Frage. Die Figur Adam Danowski jedenfalls scheint mittlerweile, gerade nach Hausbruch, prädestiniert dafür zu sein, sich stärker mit den systemischen Problemen der Polizei beschäftigen zu können, und sei es aus einem inneren Exil heraus.
Darüber würden sich, glaube ich, auch Polizist*innen freuen, besonders jene, die gegen strukturelle Missstände in der Polizei ankämpfen. Es gibt sie ja, das soll hier nicht unterschlagen sein, zum Beispiel Oliver von Dobrowolski oder den Verein PolizeiGrün. Was lesen die eigentlich so für Krimis? Hoffentlich Hausbruch, den neuen Danowski.
Till Raether: Danowski: Hausbruch, Rowohlt Polaris, Hamburg, 2021. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
Über den Autor
Oliver Pöttgen (er/he) kriegt öfters mit, wie sich seine Mutter und Leute auf Twitter über den Tatort aufregen, und liest gern Krimis, die progressiv sind. Er findet, um in Zukunft bestehen zu können, brauchen Kriminalerzählungen mehr Polizeikritik.
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