Mit beiden Beinen daneben stehen: Online-Dating und die Phrase „Mit beiden Beinen im Leben stehen“
Auf Dating-Apps wie Bumble ist häufig die Phrase „Mit beiden Beinen im Leben stehen“ zu finden. Was soll sie bloß bedeuten?
Online-Dating verzeichnet während der Corona-Pandemie stark gestiegene Nutzer*innenzahlen. Neue Menschen kennenlernen ging oder geht ja zurzeit anders kaum. Ein oft irgendwie verschämtes „wegen Corona hier“ findet sich aktuell in vielen Profilen. Vielleicht liegt es auch an der gestiegenen Nutzung, dass gewisse Phrasen und Kommunikationsmuster noch häufiger geworden sind.
Wer die Apps regelmäßig nutzt, stößt auf bestimmte Sprachstanzen, Merkmalskombinationen und Archetypen von Nutzer*innen nahezu täglich, oft mehrmals täglich und gern auch mal in Reihe. Dann zieht eine Kolonne textlich und bildlich sehr ähnlicher Profile an dir vorbei und du hast das Gefühl, die App schreit entweder um Hilfe, oder teilt dir mit, dass du mal von deinem hohen Ross runter und nach rechts wischen, also liken sollst. Das ist gut fürs Geschäft. Eine dieser Stanzen, die, wie kaum eine andere, Dating-Apps generell und ganz besonders die App Bumble im deutschen Sprachraum prägt, ist „Mit beiden Beinen im Leben stehen“. Dieser Text dreht sich um die Frage, was damit gemeint und was daran problematisch sein könnte.
Vielleicht ist eine Entwarnung angebracht: Als weißer, vom Bildungssystem begünstigter cis Mann ohne Behinderung möchte ich nicht über den textlichen Ausdruck von Nutzer*innen spotten, die weniger privilegiert sind. Es ist auch kein Spott, schon gar nicht gegen Einzelne. Alles ist anonymisiert, es geht um das Allgemeine, das Kritikwürdige daran und das Kontextualisieren von Beobachtungen. Und vielleicht geht es auch darum, etwas dabei zu helfen, Online-Dating zu einem anderen, weniger stanzigen Text- und Bilderlebnis zu machen, bei dem sich Menschen nicht ihrer Anziehung berauben, indem sie auf Worthülsen setzen.
Spielstand des Lebens
„Mit beiden Beinen im Leben stehen“ ist die Bumble-Phrase schlechthin und wird auch gern in Kombination mit ähnlich weit verbreiteten Phrasen genutzt, wie zum Beispiel hier:
Sie findet sich, so scheint mir, mehr bei weiblich als bei männlich markierten Profilen und ist in der Regel eingefasst in eine eher auf Seriosität bedachte Inszenierung der Person. Auch wenn Anwender*innen dieser Phrase nur selten wirklich sagen, was sie damit meinen, scheint sie im Zusammenspiel mit anderen Profil-Informationen auf einen Lebensentwurf zu deuten, der mehr oder weniger so aussehen kann:
Man ist berufstätig oder ist es nach Elternschaft wieder. Man meint, etwas erreicht, es zu einem (gewissen) materiellen Wohlstand gebracht zu haben, zu einem Auto, vielleicht zu einem Haus mit Garten.
Gesucht wird in der Regel eine „feste“, „verbindliche“, monogame Beziehung – oder in Bumbles karger Suchoptionen-Sprache: eine „Beziehung“, vorzugsweise mit Menschen, darf man annehmen, die sich ebenso als mit beiden Beinen im Leben stehend beschreiben.
Oft gehören dann auch Kinder zu diesem Spielstand des Lebens und regelmäßiges Reisen in alle Winkel der Welt. Dazu gibt es Freund*innen, bei denen es ähnlich ist.
Dann und wann blitzt auch mal Verschwörungsideologisches auf: „Corona-Geimpfte können gleich nach links wischen“, war neulich in einem Profil zu lesen, das ich, bei aller Vorsicht, dieser Nutzer*innengruppe zurechnen würde.
„Nach links wischen“ meint hier, dass der*die Profilverantwortliche kein Interesse an Sex, Romantik oder Freundschaft mit einem*einer hat. Wer hingegen nach rechts wischt, zeigt Interesse, hofft auf mehr, hofft darauf, dass der*die Andere auch nach rechts wischt, damit es zu einem Match kommt, damit „es matcht“, wie ich bei einer Nutzerin vor kurzem las. Mag man sich dann irgendwann nicht mehr, unmatcht man wieder, wobei das nicht im Konsens geschehen muss, manche*r also auch, mitunter kommentarlos und zurecht, unmatcht wird. Das Leben auf den Apps ist zuweilen rau.
Vielleicht soll „Mit beiden Beinen im Leben stehen“ den Linkswisch oft auch provozieren. Die Phrase wäre dann nicht nur ein ehrlich gemeintes Lebensabschnittsgefühl und Ausdruck von Zufriedenheit mit sich selbst, sondern ebenso ein Schutzzauber, ein Bannspruch gegen weniger seriös anmutende Nutzer*innen. Für diese steht die Phrase womöglich für vieles, was sie ablehnen, für ein Leben im Konservatismus. Für unreflektierte Monogamie und Heteronormativität, für das Cistem, für Hausbau mit Ehegattensplitting und allseitig erwarteter Schwangerschaft. Das wiederrum wissen vielleicht diejenigen genau, die sich mit beiden Beinen im Leben stehend beschreiben, und setzen die Phrase gezielt zur Abschreckung ein. Polys müssen draußen bleiben.
Das gelungene Leben
Bei mir funktioniert das mittlerweile sehr gut, das muss ich der Phrase lassen. Sobald ich sie erblicke, weiß ich, dass ich bei diesem Profil letztlich nach links wischen werde. Wie die Angabe „unpolitisch“ ist sie ein Disqualifikator ersten Ranges, ich kann dann nicht mehr nach rechts wischen. Ich bleibe höchstens noch etwas auf dem Profil, um der Menschenkunde zu frönen und Texte wie diesen schreiben zu können. Mich stören an der Phrase vor allem zwei Dinge, die oben auch schon durchscheinen. Zum einen ist das: Wer steht bitte nicht mit beiden Beinen im Leben? Was ist hier für ein „Leben“ gemeint? Gilt nur das als wirkliches Leben, was dem eigenen Lebensentwurf entspricht? Wenn ich nicht mit beiden Beinen in einem solchen Leben stehe, wo stehe ich dann?
Wie viele Punkte eines gut oder relativ gut situierten, cis-, hetero- und mononormativen Lebensentwurfs müssen abgehakt sein, damit beide Beine im Leben stehen? Wie sicher und gesellschaftlich akzeptiert muss der Job sein, den ich habe? Darf ich auch keinen haben? Wie able-bodied, körpergenormt und gesund, wie „happy“ und „always smiling“ muss ich sein oder mich zumindest nach außen hin geben? Wie wenig depressiv darf ich sein oder sichtbar nach außen hin wirken?
Vielleicht übertreibe ich, aber ich glaube, dass in der Redewendung eine Menge von dem steckt, was gesellschaftlich noch immer als gelungenes Leben bewertet wird und was denjenigen, die dem nicht oder weniger entsprechen, ein nach ihren Maßstäben wahrhaftes Leben erschwert oder verunmöglicht. Das betrifft Fragen der Erwerbsarbeit, geschlechtlicher Identität, sozial gemachter Geschlechterrollen, sexueller Orientierung sowie akzeptierter Körper- und Familienbilder.
Und zum anderen stört mich an „Mit beiden Beinen im Leben stehen“ einfach seine Unkonkretheit. Es ist nur sehr bedingt aus sich selbst heraus unmittelbar verständlich. Ich musste mich erst vergleichend durch sehr viele Profile wischen, um einigermaßen zu verstehen, was damit gemeint sein könnte, oder um zumindest begründete Vermutungen darüber anstellen zu können.
Sprachlosigkeit für Dinge der Liebe
In ihrem Buch Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist schreibt die Journalistin Şeyda Kurt, dass es eine gesellschaftlich weit verbreitete Sprachlosigkeit für die Dinge der Liebe gebe. Dass über vieles nach wie vor nicht gesprochen werde oder mangels konkreter Begriffe auch nicht gesprochen werden könne, trotz der Omnipräsenz des Themas Liebe. Das sehe ich ähnlich. Besonders die Monogamie als beziehungssteuernde Grundidee macht vieles nicht oder nur schwer ansprechbar, selbst wenn man die Begriffe dafür hat.
Online-Dating kann eigentlich dabei helfen, diese Sprachlosigkeit zu überwinden, weil ehrlich gestaltete und aussagekräftige Profile Eckpunkte einer möglichen Beziehung zwischen Menschen schnell abstecken können und man dann sofort weiß, woran man ist. Nutzer*innen werden über das Menü der Apps oft Begriffe an die Hand gegeben, mit denen sie ihre Wünsche konkret(er) zum Ausdruck bringen können. Oder sie sehen bei anderen Nutzer*innen Begriffe wie „polyamor“, „ethisch polygam“ und „sexpositiv“, informieren sich darüber und benutzen sie dann vielleicht in ihren eigenen Profiltexten.
Wenn ich mich aber mit der Phrase „Mit beiden Beinen im Leben stehen“ beschreibe, dann unterlaufe ich das Bemühen um konkrete Sprache, dann neble ich mich und andere ein. Wir stehen alle mit beiden Beinen in unseren Leben, die Frage ist nur, welchen Lebensentwurf das – sofern man denn wirklich viel daran entwerfen kann und nicht einfach nur in etwas geworfen wird – jeweils meint. Das lässt sich konkret sagen. Und, noch als persönliche Prise, wenn ein Leben, in dem jemand mit beiden Beinen steht, so aussieht wie oben vermutet, dann möchte ich eher nicht mit in diesem Leben stehen. Dann stehe ich lieber mit beiden Beinen daneben. ◆
Tags: Dating
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) war vielleicht ein bisschen süchtig nach Dating-Apps und hat über sie liebe Menschen kennengelernt, die er in seinem Leben nicht missen möchte.
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