Zärtliche Radikale
Im Sachbuch „Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist“ verwebt Şeyda Kurt die Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen mit Herrschaftskritik.
Vielleicht hängt es mit der baldigen Bundestagswahl zusammen, aber manchmal glaube ich, es mag naiv sein, dass sich wirklich etwas ändern könnte in diesem Land, diesem GroKo-Deutschland, das ein CDU-Deutschland ist. In diesem kalten, zukunftsscheuen Reich von Konservativen und Altherrendeutschen, die meinem Leben die traurige Konstante gegeben haben, dass drei Viertel davon jemand von der CDU Kanzler*in war. Und in dem Viertel, in dem jemand von der SPD Kanzler*in war, wurde auch viel CDU-Politik gemacht.
Das Gefühl, dass eine andere, bessere Zukunft möglich ist, habe ich gerade vor allem dann, wenn ich bestimmte Bücher lese. So ein Buch ist Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist von der Journalistin Şeyda Kurt. Schon der Untertitel nährt dieses Gefühl. Einleitend schreibt die Autorin:
„Eine der gefährlichsten Wahrheiten ist, dass mein Verhältnis zu mir selbst und zu anderen Menschen eben nicht politisch sei. Dass es sich um eine rein private, individuelle Angelegenheit handle, für die ich mich allein verantwortlich zeichne.“
„Wahrheiten“ meint hier nicht etwas, das objektiv „wahr“ ist, sondern es meint sozial gemachte Erzählungen: Deutungen darüber, wie Sachen sind, warum Sachen so sind, wie sie sind, und, grundsätzlicher, was normativ richtig und was falsch ist. Die Politisierung von Beziehungen mache Muster und Machtstrukturen erkennbar, schreibt Şeyda Kurt weiter, die Menschen Rollen zuwiesen und sie darin gefangen hielten. Aus der Erkenntnis, dass Beziehungen politisch seien, folge auch die Erkenntnis, dass sie veränderbar seien, wie Politik generell. Das mache denjenigen Angst, die bisher von den Machtstrukturen profitierten, die Angst vor einem Miteinander auf Augenhöhe hätten.
Philosophische Wut
Yala Pierenkemper schreibt im Missy Magazine, dass Şeyda Kurts Wunsch, mit ihrem Werk Unordnung und Unbehagen zu stiften, nicht ganz aufgehe, weil die Autorin dafür zu viel ordne und zu einleuchtend analysiere. Ich finde, der Wunsch geht ziemlich gut auf, weil Şeyda Kurt nicht nur diskursive Bezüge herstellt und dominante Erzählungen über Beziehungen und Sexualität dekonstruiert, sondern ihr auch die Wut auf die dominanzgesellschaftlichen Verhältnisse mitsamt ihres kapitalistischen Motors deutlich anzumerken ist.
„In einer Welt, in der marginalisierten Menschen von klein auf gespiegelt wird, dass ihre Körper weniger wertvoll sind, ist es ein Akt politischen Widerstandes, diese Erniedrigung nicht zu verinnerlichen, sich nicht von ihr zerfressen zu lassen, den Zuschreibungen und Anmaßungen der Dominanzgesellschaft ein Fuck you! entgegenzubrüllen, ihre Wahrheiten nicht zu eigenen zu erheben.“
Dieses Fuck you! scheint, wenngleich subtiler, auch anderswo im Buch durch und macht für mich einen Teil seines Charmes aus, weil journalistische und geisteswissenschaftliche Sachlichkeit und Analytik mit Wut und Widerständigkeit gepaart werden. Gerade weißen Leser*innen, die nicht gesellschaftlich marginalisiert und weniger stark oder gar nicht ausgebeutet werden, kann Şeyda Kurt dabei viel Unbehagen bereiten, sind sie, sind wir es doch, die gesellschaftliche Macht- und Unterdrückungsverhältnisse mittragen, wenn oft auch mehr oder weniger unbewusst oder zusehend, sich hilflos wähnend.
Es ist nicht das erste Buch aus den zurückliegenden Jahren, dem das gelingt, Eure Heimat ist unser Albtraum kommt mir gleich in den Sinn, aber Radikale Zärtlichkeit schafft das durch seine Kombination aus biographischem und philosophisch-ideengeschichtlichem Zugriff auf eine ganz eigene Weise. In diesem Zusammenhang fällt auf, auch das mag ich am Buch, dass Şeyda Kurt männliche Philosophen und Autoren wie Platon, Erich Fromm oder Slavoj Žižek meist eher kritisierend referenziert, den Positionen von Denkerinnen und Publizistinnen wie Eva Illouz, bell hooks oder Felicia Ewert hingegen sehr viel mehr abgewinnen kann. Das Buch lässt sich gerade an diesen Stellen als Angriff auf ein traditionell cismännliches und heteronormatives Beziehungsdenken lesen, das viel Leid anrichtet, auch für cis Männer.
Lieben im Kapitalismus
Es geht also nicht nur um Freund*innenschaften, Beziehungen, Liebe, Romantik oder Sexualität im engeren Sinne, Radikale Zärtlichkeit ist kein oder nur sehr bedingt ein Beziehungsratgeber. Themen wie Monogamie als Beziehungen dominierende Erzählung oder wertschätzende Kommunikation zwischen Partner*innen spielen zwar eine wichtige Rolle im Buch, gerade auch dafür, was mit „Zärtlichkeit“ eigentlich gemeint ist, aber Radikale Zärtlichkeit greift viel weiter aus. Es fragt auch danach, woher diese Ideen, die „Riten der romantischen Liebe“ kommen und mit welchen machtpolitischen Absichten sie in Gesellschaften eingespeist wurden und werden, was ihre „politischen, historischen oder sozialen Verflechtungen“ sind. So verdeutlicht Şeyda Kurt zum Beispiel, wie die Idee der Monogamie im Rahmen der rassistischen Kolonialpolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts instrumentalisiert und noch wirkmächtiger gemacht wurde.
„Erzählungen” ist für mich, es klingt oben schon an, einer der zentralen Begriffe des Buchs. Şeyda Kurt seziert dabei dominante, auch medial immer wieder verstärkte Erzählungen über Formen der Liebe und macht Vorschläge, wie sie anders erzählt werden könnten, welche Gegenentwürfe möglich sind. Das geschieht nicht nur unter Rückgriff auf Literatur, sondern auch anhand von Musikstücken, Filmen oder der Serie Pose, die von der queeren, widerständigen Ballroomkultur im New York der 1980er Jahre und sich darum herum aufspannenden Freundinnen*schaften und romantischen oder sexuellen Beziehungen handelt – und damit marginalisierte Geschichten Schwarzer trans Menschen erzählt.
Kapitalismuskritik, wenn nicht gar Antikapitalismus, der im Teil „Warum Zärtlichkeit eine postkapitalistische Zeitkultur braucht” mit am deutlichsten hervortritt, ist ein weiterer sich durchs Buch ziehender Faden. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie erfüllend ein Beziehungsleben, auch in der Beziehung von Individuen zu sich selbst, überhaupt sein kann, in einer durch abhängige Erwerbsarbeit geprägten „brutalen Ökonomie” und ihrer linearen Zeitwirtschaft.
„Ich sehne mich danach, ohne Angst aus der Zeit fallen zu können. Auch gemeinsam.”
Ich mag diese Stelle sehr, finde es aber gerade hier schade, und das ist mein einziger, wirklicher Kritikpunkt am Buch, dass eine immer mehr an Momentum gewinnende Idee, eine Gegenerzählung zum Status quo keine Erwähnung findet: das bedingungslose Grundeinkommen. Ein BGE hat das Potential im Sinne des Buchs Machtverhältnisse zugunsten der kapitalistisch Ausgebeuteten zu verändern, gesellschaftliche Zeitkulturen neu zu gestalten und es damit Menschen zu erleichtern, wirklich erfüllende Beziehungen zu leben, wie auch immer diese ausgestaltet sein mögen. Ein BGE würde es einfacher machen, zu lieben.
Bleibt noch die Frage, wieder mit Blick auf die baldige Bundestagswahl: Welche Partei will politisch mehr von dem möglicher machen, was Şeyda Kurt in Radikale Zärtlichkeit so zärtlich radikal entwirft? ◆
Şeyda Kurt: Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist, HarperCollins, Hamburg, 2021.
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) ist froh über herrschaftskritische Bücher wie Radikale Zärtlichkeit, weil er durch sie viel über (eigene) Privilegien, Machtmechanismen und gesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen gelernt hat.
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