Zeig mir dein Tinder: Dating-Apps als Qualitätsfilter
Dating-Apps sind für viele nur die Ultima Ratio, wenn sie neue Menschen kennenlernen wollen. Dabei spricht einiges dafür, sie zur Prima Ratio zu machen.
Auf der Dating-App Bumble habe ich in den letzten Monaten bei vielen Nutzer*innen gelesen, dass sie nur wegen Corona dort seien. Bars, Clubs und andere Flirtstätten waren ja geschlossen. Dieser Hinweis liest sich dann oft rechtfertigend und verschämt, als seien ihnen Dating-Apps eigentlich zu schmuddelig oder als hätten sie sie unter anderen Umständen nicht nötig.
Manchmal findet sich damit auch die Hoffnung verbunden, dass man sich gemeinsam wieder abmelden könne, nachdem man sich gefunden hat, wenn nicht gar „angekommen“ ist. Das wollen ja viele, ankommen. Wo, steht aber meist nicht dabei. Dass man mit jemandem „fest“ zusammen und trotzdem auf Dating-Apps sein kann, weil man auch mit anderen mal irgendwie „zusammen“ sein möchte, für ganz kurz oder auch länger, ist im Skript des Dating leider noch nicht allzu etabliert. „Beziehung“ meint, zumindest auf Bumble und meiner alltäglichen Sprachwahrnehmung nach, in der Regel etwas Exklusives und Monogames. Aber ich schweife ab.
Während meines Studiums meinte eine Kommilitonin mal, es muss 2012 herum gewesen sein, für Online-Dating noch nicht verzweifelt genug zu sein. Gut, das Online-Dating war damals ein anderes als heute, es fand mehr im Browser als auf Apps statt, es gab weniger Plattformen und Nutzer*innen, aber es ist dasselbe Ressentiment, scheint mir. Die Apps werden dann zur Ultima Ratio, zum letzten Mittel, dessen man sich nur bedient, wenn es wirklich gar nicht anders geht. Wenn sich sonst, im „echten Leben“, niemand Patentes finden lässt. Ach, bei der Gelegenheit: Falls jemand weiß, über welches Portal ich ins „echte“ Leben komme, möge sie*er mir es bitte sagen. Ich finde ja digital vermitteltes Leben schon erschütternd echt.
Natürlich können Dating-Apps auch ein Krampf für Augen und Intellekt sein, ganz zu schweigen davon, dass sie Gefahren bergen, gerade für weiblich gelesene Menschen. Uninspirierte bis aggressive Anfragen besonders von cis Männern, unaufgeforderte Penisfotos, verbale Übergriffigkeiten bis hin zu Drohungen, Kommunikation, die teils kaum als solche bezeichnet werden kann, Fake-Fotos und Fake-Profile.
Hinter jedem Wisch nach rechts lauert fragile Männlichkeit, hinter jedem nach links wartet nur das Nichts – und das ist immerhin nicht anstrengend. Vieles von dem ist allerdings auch ein Risiko im Offline-Dating, nur mit dem nicht ganz unerheblichen Unterschied, dass Männer nicht direkt handgreiflich werden, dass KO-Tropfen und sexualisierte Gewalt nicht schon beim ersten Kennenlernen stattfinden können, dass es ein Nein einfacher hat.
Wisch und weg
Für mich besteht der Nutzen von Dating-Apps auch und gerade darin, dass sie Kontakte transparenter machen, weil auf einen Blick deutlich wird, woran man ist. Sofern Profile aussagekräftig gestaltet sind – und sind sie es nicht, kann das schon Grund genug für den Linkswisch sein. Dating-Apps helfen bei der notwendigen Entzauberung, sie helfen dabei, den Nebel zu lichten, der unbekannte Menschen oft umgibt, träfe man in Clubs oder Bars zum ersten Mal auf sie. Oder, meinetwegen auch dort, im Supermarkt.
Ich verstehe, dass für viele der Reiz gerade darin besteht, diesen Nebel selbst Stück für Stück zu lichten, im Laufe eines Abends, einer Nacht oder über mehrere Dates hinweg. Ich für meinen Teil weiß es aber z. B. sehr zu schätzen, wenn allen im Voraus klar ist, dass eine Begegnung nicht unter monogamen Vorzeichen und Hoffnungen, sondern vor dem Hintergrund eines polygamen Beziehungslebens stattfindet, das offen kommuniziert wird. Und dabei helfen Dating-Apps. Wie viele schlechte Beziehungen und Ehen, wie viel sexualisierte Gewalt und wie viele Femizide hätten verhindert werden können, wenn vermeintliche Partner*innen dank Dating-Apps nicht zusammengekommen wären?
Weil durch einen Blick aufs Profil schnell klar gewesen wäre, dass man aufgrund einer bestimmten Angabe oder der Art und Weise, wie sich ein Mensch textlich und visuell präsentiert, nicht zusammenpasst? Weil es Disqualifikatoren wie gewisse Arten von Fotos oder Phrasen gibt, die viel verraten können und nur noch den Linkswisch zulassen? Weil es Ungereimtheiten zwischen der Inszenierung auf der App und im Auftreten offline gibt? Dating-Apps können hier eine vorgeschaltete Sicherheitsstufe, ein Qualitätsfilter und Realitätscheck sein. Als solche funktionieren sie vielleicht nicht immer gleich gut, beim Abwehren und Aussieben von Unangenehmem helfen sie grundsätzlich aber doch sehr. Sie zur Prima Ratio, zum ersten Mittel bei der Suche nach romantischen, sexuellen oder freundschaftlichen Kontakten zu machen, könnte sich lohnen.
Es mag ein wenig nach digitalem Überwachungsstaat klingen, manchmal denke ich aber, wenn sich Menschen beim ersten Kennenlernen ihre Dating-App-Profile zeigten, als vertrauensbildende Maßnahme, dann könnte das viel Ungemach verhindern, wenn nicht gar, in letzter Konsequenz, Leben retten. ◆
Tags: Dating
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) war vielleicht ein bisschen süchtig nach Dating-Apps und hat über sie liebe Menschen kennengelernt, die er in seinem Leben nicht missen möchte.
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