„Ein brutal guter Abend“
Frauen-Wrestling hat es in Deutschland schwer. In Stuttgart aber etabliert es sich, wie das Event „Breaking Barriers“ zeigt. Über einen Abend, der neben Action auch Geschichten bot.

Klos sind Orte der Wahrheit. Zum Beispiel dann, wenn dort ein Wrestling-Promoter von einem Zuschauer nach dem Event gesagt bekommt, dass zwar alles schön funktioniert habe, man beim nächsten Mal aber mehr Blut sehen wolle. So geschehen, ich war Ohrenzeuge, Anfang des Jahres beim Frauen-Wrestling-Event „Here2Stay“ in Stuttgart-Vaihingen. Blut floss, und das ist gut so, jedoch auch beim nächsten Mal nicht.
„Breaking Barriers“ hieß dieses nächste Mal; es fand Ende Mai statt, wieder in Vaihingens Österfeldhalle. Es war das dritte Frauen-Wrestling-Event, das der Stuttgarter Veranstalter Fury All-Women Pro-Wrestling Promotion e. V. präsentierte – vor „Breaking Barriers“ und „Here2Stay“ gab es 2023 bereits den „Walkyren-Cup“. Die vierte Ausgabe, „Brawl4Glory“ genannt, soll diesen Oktober stattfinden.
Auf einen Klick: Besser als Männer // Wrestling als Kampftheater // Die erste Championesse // „I crushed cute“
Das in Deutschland und Europa eher ein Schattendasein fristende Frauen-Wrestling ist also allem Anschein nach dabei, sich zumindest in Stuttgart zu etablieren. Von einem „geilen Abend“ sprach die sichtlich zufriedene Organisatorin und Ringsprecherin Jennifer Hellmig, als sie Breaking Barriers abmoderierte. „Die Leute haben Bock auf Wrestling“, sagt sie im Interview mit vliestext. Ebenfalls begeistert zeigte sich ihr Mitorganisator Marcel Durer bei seiner Abschlussrede darüber, dass auch Breaking Barriers großen Anklang fand. All die Arbeit habe sich gelohnt.
Besser als Männer
In der Tat scheint sich das Fury-Team, zu dem auch viele Helfer*innen gehören, eingespielt und mit der Österfeldhalle eine Stammlocation gefunden zu haben. Die Mischung aus Aula und Sporthalle mag zwar nicht ganz den Charme der Untertürkheimer Sängerhalle haben, von deren Empore und Hängeleuchtern der Walkyren-Cup atmosphärisch profitierte, passt aber dennoch gut zur Event-Reihe.
Das sieht wohl auch die österreichische Wrestlerin Jessy „F’N“ Jay so, die im Titelmatch der aus Frankreich stammenden Cory Zero unterlag. Jay bedankte sich bei Hellmig und Durer für die Plattform, die Fury Wrestlerinnen bietet. Endlich könnten sie zeigen, dass Frauen-Wrestling nicht nur Beiwerk des Männer-Wrestling sei. Frauen könnten im Ring nicht nur mithalten, sie seien auch besser als Männer. Man sehe, dass, anders als manche glauben, auch reines Frauen-Wrestling Publikum anlockt. „Die Vorurteile, die in der Wrestling-Szene gerne mal gegenüber unseren Wrestlerinnen herrschen, sie seien nur Lückenfüller für die Matches der männlichen Kollegen, müssen zersprengt werden“, antwortet Promoter Durer auf die Frage, wofür der Titel „Breaking Barriers“ steht. Es gehe um Empowerment.
Laut Fury – der Name spielt auf die Rachegöttinen der Antike an – nehmen manche Fans eine mehrstündige Anreise aus ganz Deutschland in Kauf, um ihre Lieblingswrestlerinnen live zu sehen. Allgemein war zu spüren, dass die Veranstaltung allen Beteiligten viel bedeutet. „Uns ist ein menschlicher Umgang im Miteinander wichtig“, sagt Promoterin Hellmig. „Schon bei unserer ersten Show haben wir das Feedback von Aktiven und Fans bekommen, dass sie sich sehr wohl gefühlt haben.“
„Auf die Fresse!“
Vielleicht ist das Stuttgarter Frauen-Wrestling zu einem Geheimtipp avanciert – gerade dann, wenn es um Unterhaltung der etwas anderen Art geht. Wenn guter Kitsch und Camp neben Action und Aggression stehen dürfen. Klarkommen müssen Zuschauer*innen etwa auf die Anfeuerung „Auf die Fresse!“, mit der manche Fans die Darbietung begleiten. Aber keine Sorge: Niemand bekommt wirklich „auf die Fresse“; es wird nur so getan. Wrestling sei „näher am Tanz als am Boxen“, schrieb Marie Simons neulich für die taz.
Wrestling ist ein geskripteter Kampfsport, in dem Sportlerinnen Figuren verkörpern, eine Rolle einnehmen. Es ist eine Show, bei der in der Regel vorher feststeht, im Rahmen einer episodischen Dramaturgie, wer gewinnt. Somit ähnelt Wrestling Theaterstücken und lässt sich, wie es Simoné Goldschmidt-Lechner in ihrem Sachbuch Nerd Girl Magic: Fandom aus marginalisierter Perspektive tut, als physisches Theater begreifen. Vielleicht könnte man auch Kampftheater dazu sagen. Für Durer ist es „interaktives Vollkontakt-Improvisationstheater“. Die Wrestlerinnen brächten ihre Charaktere mit und die Show sorge dafür, dass diese sich weiterentwickeln und wachsen. „Rivalitäten, Freundschaften, Triumph, Verrat – ohne Story wäre so eine Show für mich nur beliebiges Spektakel.“
Ein Gürtel für die Championesse
Breaking Barriers bot viel Kampftheater, mit internationaler Besetzung. Angeleitet von zwei Schiedsrichterinnen (in Deutschland gibt es insgesamt nur drei) traten in sechs Matches 14 Wrestlerinnen gegeneinander an, darunter ein Tag-Team-Kampf mit zwei Zweier-Teams. Die Kämpferinnen tragen Namen wie The Lunatiks, Sultan Suzu oder WARChild Saga und lieferten knapp drei Stunden lang eine abwechslungsreiche Mischung aus Körperkraft und Akrobatik, aus klatschenden Schlägen, fliegenden Tritten und schwitzigen Griffen, aus Sportsgeist und Hinterlist.
Wie es sich fürs Wrestling gehört, ging es dabei nicht nur im, sondern auch außerhalb des Rings zur Sache, in den Stuhlreihen des Publikums etwa. Höhe- und Schlusspunkt des Abends war, sportlich wie dramaturgisch, das schon erwähnte Titelmatch zwischen den Publikumslieblingen Cory Zero und Jessy „F’N“ Jay. Erstere siegte und sicherte sich den erstmals verliehenen Championship-Gürtel. Den wird sie beim nächsten Event im Oktober gegen Baby Allison verteidigen, die an diesem Abend gegen Diana Tano zu beeindrucken wusste.
In der Summe bot Breaking Barriers wieder viel von dem, was Wrestling-Fans gefallen dürfte. Das Publikum in der Österfeldhalle jedenfalls war Feuer und Flamme. Für Breaking Barriers mag in gewisser Weise das gelten, was eine Instagram-Nutzerin schon zum Vorgänger Here2Stay schrieb: Es war „ein brutal guter Abend“. Ein Safe Space scheint Here2Stay auch gewesen zu sein, jedenfalls erfuhr Durer über Dritte, dass auf dem Frauenklo gesagt worden sei, dass sich das Event so anfühle – was für Durer das „größte Kompliment des Abends“ war. Man habe deutlich mehr weiblich lesbares Publikum als andere Wrestling-Promotions.

Nach Breaking Barriers hörte ich einen Besucher sagen, er wolle an der Kasse fragen, ob es schon Dauerkarten gebe. Das Fury-Team wird’s freuen. „Wir möchten auch in Zukunft einen Rahmen für das Frauen-Wrestling in Deutschland und Europa geben“, sagt Jennifer Hellmig. Und Marcel Durer kann sich vorstellen, auch in anderen Städten als Stuttgart zu veranstalten: „Wir wollen wachsen.“
Nun könnte dieser Text zu Ende sein, „wachsen“ wäre ein schönes Schlusswort. Auf einen Aspekt ist allerdings noch einzugehen, nicht nur, weil er mich besonders interessiert, sondern vor allem, weil er fürs Wrestling wichtig ist. Es geht um die Geschichtenwelt des Wrestling, um sein viel beschworenes Storytelling.
„I crushed cute“
„Wrestling-Matches sind Moralstücke im Kampfsport-Gewand“, schrieb 2023 Mathis Raabe für die taz. Zu fragen ist – auch wenn das wohl nicht alle Zuschauer*innen gleichermaßen interessiert–: Wofür kämpfen die Kunstfiguren? Was sind ihre Handlungsmotive? Welche Themen und Konflikte finden sich, mit den erzählerischen Mitteln des Wrestling, verhandelt? Welche Botschaften werden transportiert?
Gerade beim bisher marginalisierten Frauen-Wrestling haben solche Fragen im Kontext gesellschaftlicher Debatten und Gerechtigkeitskämpfe eine feministische Dimension. „Es geht um das Überwinden patriarchal gewachsener Konventionen – etwas, wovon es im Wrestling sonst leider viel zu viel gibt“, sagt Durer. Während dies bei den vorherigen Events, zumindest sicht- und hörbar im Ring, noch nicht ganz den Raum zu haben schien, den es verdient, lieferte Breaking Barriers mehr.
Etwa bei der Ansprache der Wrestlerin Julia, die mit ihrer Figur einen Rollenwandel vollzogen hat: Sie will nicht mehr der süße Publikumsliebling, die Heldin toxischer Positivität sein, nicht mehr lieb und brav. „I crushed cute“, sagte sie voller Wut dem Publikum, in dem viele Männer saßen. Julia zerschmettert also ihre Niedlichkeit.
Das lässt sich als Ermächtigung gegen Rollenzuschreibungen lesen, als Abwehr von Erwartungen, die eine patriarchal geprägte Gesellschaft an Frauen stellt. Interessant wird sein, was das Stuttgarter Fury-Wrestling in Zukunft noch erzählt. ◆
Das nächste Event „Brawl4Glory“ findet am 4. Oktober statt, weitere Infos gibt es hier.
Tags: Stuttgart // Feminismus
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Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) sah während seiner Kindheit Anfang der 90er-Jahre gern Männer-Wrestling im Fernsehen und spielte Kämpfe mit Freunden nach.
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