Abrechnung mit sich selbst: „Erzählung vom Schweigen“ von Katharina Peter
In der Reihe „Durch!“ schreibt die Schriftstellerin Sofie Lichtenstein Kurzrezensionen zu Büchern, mit denen sie durch ist.
Vor rund einem Jahrzehnt – oder vielleicht ist es noch länger her – habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, zu jedem Buch, das ich gelesen habe, eine kleine Besprechung zu schreiben. Sie dient mir vor allem als Erinnerungshilfe, aber auch als Mittel, mir bewusst zu machen, was ich gelesen habe.
Ich lese Bücher als Autorin und Privatperson, nicht als Feuilletonistin. Meine Kurzrezensionen, wie ich sie unbeholfen nenne, sind daher bloß ungeordnete Gedanken, die ich vor allem für meine Instagram-Follower aufschreibe. Hier auf vliestext finden sie nun auch ein Publikum.
Zuweilen fühlt sich dieser Akt des Nachdenkens und Schreibens wie eine Pflicht an, mit der ich einfach nur „durch“ sein möchte. Zum Glück aber nur zuweilen.
Alle Beiträge der Reihe „Durch!“ finden sich hier.
#9 Katharina Peter: Erzählung vom Schweigen
Wäre ich nicht auf das Buch aufmerksam gemacht worden, hätte ich vermutlich nie Notiz von ihm genommen. Stark beworben wurde der Roman offenbar nicht, was schade ist. Mit Erzählung vom Schweigen hat Katharina Peter ein sehr lesenswertes und, vielmehr noch, kluges Buch über transgenerationale Traumata sowie die familienübergreifende Unfähigkeit geschrieben, andere Gefühle zuzulassen als Wut.
Dass ich den Roman als „klug“ beschreibe, ist hierbei keineswegs als Floskel wie etwa „fulminant“ zu verstehen. Vielmehr verwende ich den Begriff ganz bewusst. Die psychologisch scharfsinnigen Beobachtungen und Analysen von Ich-Erzählerin Karolina – seelisch gezeichnet durch die Traumata, die sie geerbt hat – rangen mir immer wieder aufrichtige Bewunderung ab.
Sprechen über Schuld und Schmerz
Der Roman liest sich zum Teil wie eine Abrechnung Karolinas. Mit den 68er-Eltern, mit den Nazi-Großeltern, die sich als Opfer gerieren, aber vor allem mit sich selbst. Auch Karolina ist nicht frei von jenen toxischen Verhaltensweisen, die sie bei ihrer Familie anprangert.
Wie schon ihrer Großmutter und Mutter fällt es auch ihr über die Maßen schwer, Schmerz zuzulassen. Wie schon ihre Großmutter und Mutter wehrt auch sie jede Vulnerabilität, die sich aufzutun droht, mit Wut ab. Wie schon ihre Großmutter und Mutter spricht auch sie die Sprache der Abwertung. Fast könnte man meinen, dass ein Ausbrechen aus der familiären Tradition unmöglich ist.
Allerdings markiert Karolinas schonungslose Auseinandersetzung mit sich und der Familiengeschichte im intergenerationalen Brauchtum, in dem Schuld- und Gefühlsabwehr lebenserhaltende Reflexe sind, einen Wendepunkt. Ganz im Gegensatz zu ihren Urgroßeltern, Großeltern und Eltern, die ihre Gefühle weder mit der Welt noch mit sich selbst ausmachen, versperrt sie sich nicht gegenüber Selbstreflexion und dem Sprechen über Schuld und andauernden Schmerz.
Versteinertes Schweigen
Auch wenn sie außerstande ist, selbstschädigende Verhaltensweisen gänzlich abzulegen, ist sie doch in der Lage, sich nicht nur mit der Vergangenheit, ihren Gefühlen und sich selbst zu konfrontieren. Sie vermag auch, das ewige, nahezu versteinerte Schweigen zu brechen. Herausgelöst werden viele kleine szenische Erzählungen, aus denen Karolina Kontinuitäten zu rekonstruieren versucht.
Man könnte vielleicht annehmen, dass der Grundtenor des Romans in Anbetracht der Thematik durchweg ernst, schwermütig und düster sei. Tatsächlich allerdings ist die Lektüre teilweise sehr witzig, nicht zuletzt wegen des beißenden Sarkasmus und der ein oder anderen abfälligen Bemerkung der Ich-Erzählerin. Beides ist natürlich vor allem ein Ausdruck verinnerlichter Gefühlsabwehr, etwas, woraus Karolina auch keinen Hehl macht. So viel Tragik ihrem Sarkasmus und ihrer (Selbst-)Abwertung aber auch innewohnen mag: Das Lachen wird man sich trotzdem kaum verkneifen können.
Autorin in Höchstform
Kommen wir aber noch einmal kurz zur Scharfsinnigkeit des Romans zurück. Diese gibt sich nicht nur in klugen Beobachtungen und Befundungen zu erkennen, sondern auch in der exzellenten Charakterisierung der Figuren. Es klingt furchtbar banal, und doch: An guten Charakterisierungen lässt sich schriftstellerisches Vermögen erkennen. Die meisten Autor*innen sind höchstens durchschnittlich darin, meine Wenigkeit nicht ausgenommen.
Katharina Peter dagegen läuft bei der Darstellung ihrer Protagonist*innen zur Höchstform auf, verleiht ihnen eine echte Psyche. Die emotionale Tiefe und Glaubwürdigkeit ihrer Figuren sind schlicht imponierend. Nicht eine Stelle in dem Roman, in dem sich der Eindruck von Konstruiertheit auftut. Hinzu kommt die starke Korrespondenz zwischen Figurencharakterisierung, szenischem Erzählen, parataktischer Sprache und Inhalt, die keine narrative, inhaltliche oder formale Entscheidung beliebig erscheinen lässt.
Erzählung vom Schweigen ist ein Buch, das allen zu empfehlen ist, die ein Interesse an Geschichten über transgenerationale Traumata haben und/oder sich gern an schriftstellerischem Handwerk laben. Ein gelungener Roman, wirklich. ◆
Katharina Peter: Erzählung vom Schweigen, Matthes & Seitz Berlin, 2023.
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Zur Autorin
Sofie Lichtenstein (sie/ihr) ist Schriftstellerin, Lektorin und Herausgeberin. 2023 erschien ihr Buch Bügeln – Protokolle über geschlechtliche Handlungen. Alle Beiträge ihrer Reihe „Durch!“ finden sich hier.
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