Bürger*innengeld
Die SPD sucht ein Morgen, findet mit dem „Bürgergeld“ aber viel vom Gestern. Nur geschlechterinklusive Sprache ist progressiv – besonders in der über Lebenschancen entscheidenden Sozialpolitik.

Text anhören (vom Autor vorgelesen):
Anmerkung, 4. November 2022: Die für 2023 geplante Einführung des Bürgergelds als Nachfolger des Arbeitslosengelds II („Hartz IV“) rückt näher und der Widerstand dagegen nimmt zu. Damit ist dieser im Mai 2021 veröffentlichte Text auch Ende 2022 noch aktuell.
„In die neue Zeit“ – dahin will die SPD. Unter dem Credo stand 2019 ihr Bundesparteitag, unter dem Hashtag twittern Sozialdemokrat*innen gern. Es ist ihr neuer Kampfruf, der auch Wahlplakate speist, wenn die Partei darauf, wie zur Landtagswahl 2021 in Baden-Württemberg, „Mehr Tatkraft“ verspricht.
Als Wähler im linksgrünen Spektrum wünsche ich ihr das mit der neuen Zeit auch von Herzen. Nur habe ich selten das Gefühl, dass ihr das gegenwärtig wirklich gelingen wird. Das mag oft an Dynamiken und Abhängigkeiten innerhalb der Großen Koalition liegen, denen sich die SPD ergibt oder die sie vorschiebt, man denke an die Uploadfilter, alles lässt sich so aber nicht erklären.
Zum Beispiel nicht das „Bürgergeld“ als Teil ihres neuen Sozialstaatskonzepts. Damit möchte die SPD das 2005 unter Gerhard Schröder eingeführte Arbeitslosengeld II („Hartz IV“) ersetzen, das viele ihrer Stammwähler*innen vergrätzt, Menschen in Armut gestürzt und allgemein große Zweifel daran hat aufkommen lassen, wie ernst sie das mit dem „sozial“ in Sozialdemokratie noch meint. Ob in dieser Frage das Bürgergeld mehr Klarheit schafft, ist aber nicht Gegenstand dieses Textes. Es geht um den Begriff. „Bürgergeld“.
Frau Müller bekommt Bürgergeld
Bürger. Maskulinum. Generisch. Als Bezeichnung eines ihrer wichtigsten sozialpolitischen Zukunftskonzepte. Das sich in Millionen Papier- und Webseiten an Gesetzestexten, Verwaltungsformularen und Leistungsbescheiden ergießt. Die sich dann auch an Bürgerinnen und nicht-binäre Menschen richten und diesen in der männlichen Form mitteilen, dass ihre Existenz einigermaßen gesichert sein soll.
„Sehr geehrte Frau Müller, Sie bekommen Bürgergeld.“ Mitgemeint. Nach Jahren gesellschaftlicher Debatte um geschlechterinklusive Sprache und patriarchale Strukturen, deren sprachliches Vehikel gerade das generische Maskulinum ist. Wirklich, SPD?
Dabei weiß sie es ja eigentlich besser – oder wissen es zumindest diejenigen, die für sie texten: Auf ihrer Website finden sich in einem Beitrag vom Januar 2021 zum Bürgergeld wie selbstverständlich Formulierungen wie „Bürger*innen“, „Schüler*innen“ oder „Betreuer*innen“ und damit der Versuch, geschlechtergerecht zu adressieren, sich vom generischen Maskulinum zu befreien, Sprache zu entgendern. Auch in den Beschlüssen vom Parteitag wird geschlechtersensibel formuliert: „Arbeitnehmer*innen“, „Leiharbeiter*innen“, „Sozialdemokrat*innen“.
Aber wie viel nützt das, wie schade, unverständlich und augenstechend ist es, wenn dann der zentrale, titelgebende und am meisten reproduzierte Begriff des Konzepts nur die männliche Form enthält?
Dabei spielt es keine Rolle, wie wahrscheinlich die politische Umsetzung angesichts aktueller Stimmenverhältnisse und des Einflussverlustes der SPD überhaupt ist. [1] Es gibt auch ohne Wahlsieg eine Wirkung, auch ohne Regierungsbeteiligung eine Reproduktion von Werten. Geschlechterinklusive Sprache muss – gerade bei Oberbegriffen – von vornherein mitgedacht werden, ganz besonders in der über Lebenschancen entscheidenden Sozialpolitik. Das ist kein Plädoyer für „Bürger*innengeld“, sondern gegen das generische Maskulinum.
Am Ende das Geld
Ja, es ist schwer, gute Namen für Dinge und Ideen zu finden. War es immer schon und ist es heute noch mehr, viele Begriffe sind bereits vergeben oder konnotativ verbrannt. Das Internet sagt uns das schnell, manchmal auch das Patent- und Markenamt. Das engt ein und zerstört Träume. Auch bei Bezeichnungen für sozialpolitische Konzepte ist das so, zumal bei solchen, die auf „-geld“ enden. Das ist griffig und bewährt: Wohngeld. Kindergeld. Elterngeld. Arbeitslosengeld. Pflegegeld. Sterbegeld.
Im Umfeld von Grundeinkommensmodellen, die wichtige Bezugspunkte für die SPD beim Neudenken von Sozialstaatlichkeit sein müssen, ist dieses Wortbildungsmuster auch beliebt. Dort finden sich zum Beispiel Konzepte namens „Lebensgeld“ oder „Existenzgeld“. Auch „Grundgeld“ ist durch andere Kontexte schon vorkonnotiert. Nicht leicht also, in dieser Diskursumwelt einen unverbrauchten und passenden Begriff zu finden, schon gar nicht, wenn dieser Begriff jene zwei Silben ersetzen und vergessen machen soll, die der SPD so geschadet haben: Hartz, vier.
Das generische Maskulinum in Bürgergeld verrät jedenfalls etwas über die SPD, und sei es erst mal nur, dass ihr das Problem nicht aufgefallen ist. Oder, dass es Entscheider*innen für nicht so wichtig hielten, falls es zu innerparteilichen Debatten darüber kam. Und das sagt schon viel. Es ist begrifflich an zentraler Stelle ein Hängen im Gestern.
Wirklich progressiv ist es übrigens auch nicht, das Bürgergeld nicht als bedingungsloses Grundeinkommen zu konzipieren oder es da zumindest perspektivisch hinführen zu wollen. Dann könnt’s nämlich wieder richtig klappen mit den Wähler*innen. Und der neuen Zeit.
Anmerkungen
[1] Update zur Bundestagswahl 2021: In den Sondierungsgesprächen einigten sich SPD, Grüne und FDP auch auf das Bürgergeld und verankerten es im Koalitionsvertrag. Im August 2022 veröffentlichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales einen Referent*innen-Entwurf. Zur Umsetzung wird es vermutlich 2023 kommen.
Zum Titelbild: Dem Autor ist bewusst, dass die auf dem Foto zu sehende Pride-Flagge die Aussage des Textes nicht voll abbildet, da sie keine Symbol-Elemente enthält, die explizit für etwa trans, nicht-binäre oder agender Menschen stehen, wie es bei Weiterentwicklungen der Pride-Flagge der Fall ist. Dass die Wahl dennoch auf dieses Bild fiel, hängt insbesondere mit der Stärke des Motivs zusammen, das gut zum Text passt.
Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) hat früher mal SPD gewählt und wünscht sich, dass die SPD wieder zu einer Kraft wird, mit der eine linke und grüne Zukunft zu machen ist. Geschlechterinklusive Sprache muss Teil davon sein.
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