Erzählend zur Sache: Wie über die Rote Armee Fraktion schreiben?
In Stephanie Barts neuem Roman „Erzählung zur Sache“ geht es um die RAF und Gewalt als politisches Mittel. Bart stiftet Zusammenhänge revolutionären Handelns, ohne in die Heroisierungsfalle zu tappen.
Die erste Generation der Roten Armee Fraktion (RAF), die „Baader-Meinhof-Bande“, vor allem Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ensslin, spielen in Deutschlands politischer Vorstellungswelt eine seltsame Rolle: Sie sind fester Bestandteil der politischen Popkultur – als fast schon beliebige Chiffre einsetzbar, um sich entweder selbst als irgendwie radikal gegenüber dem politischen oder gesellschaftlichen Mainstream zu positionieren oder um andere als radikale Gegner des gesellschaftlichen Mainstreams zu denunzieren.
Die einen branden sich auf Social-Media-Plattformen mit RAF-Paraphernalia als „links“ oder wünschen sich eine neue RAF herbei, um rechten Terror zu kontern; die anderen beschimpfen Menschen, die Farbe auf das Brandenburger Tor werfen oder sich auf großen Kreuzungen festsetzen, als „Klima-RAF“. Die inhaltliche Beziehung der Chiffre „RAF“ zu dem, was und wer die RAF war, ist nur noch sehr lose, wohlwollend ausgedrückt. Und das, obwohl man auf Amazon, dem großen Monopolisten kultureller Waren, unter „RAF“, „Meinhof“ oder „Ensslin“ eine ganze Menge Titel zum Thema findet: historische Darstellungen, Auswahlausgaben von RAF-Texten und der Gerichtsprotokolle des Stammheim-Prozesses, Memoiren und Biographien. Auch als Bewegtbild. Wer „RAF Roman“ in eine Suchmaschine eingibt, erhält eine lange Liste an Treffern. Stimmen die Kurzbeschreibungen der Verlage einigermaßen, sind das fast alles klassische erzählerische Formen, quasi historische Romane. Manche haben RAF-Mitglieder als Hauptpersonen, meist sind sie aber nur als Nebenfiguren präsent. Oder die Jahre des Terrors in der BRD in den 1970ern, die „Bleierne Zeit“, bilden lediglich den Hintergrund der Handlung.
Die Heroisierungsfalle
Die Scheu, eine Terrorist*in oder eine Terrorgruppe zu den Protagonistinnen eines Romans zu machen, kann ich nachvollziehen. Wer innerhalb des üblich gewordenen Paradigma des „realistischen“ Erzählens schreibt, macht damit eine Terrorist*in zur Heldin, und sei es auch eine Negativ- oder Anti-Heldin. Und selbst wenn man das möchte und keine Angst davor hat, als Terrorismus-Sympathisantin verschrien zu werden, wird man das andere Gepäck realistischen Erzählens nicht los: Individualisierung und Psychologisierung, die aus den politischen Überzeugungen und Motivationen der Figuren schnell Effekte früherer biographischer Erlebnisse machen. Oder man hat sehr schnell eine romantisierende Gangsterstory am Start, Baader und Ensslin als Bonnie und Clyde, aber mit Bekennerschreiben. Sowas kann unterhaltsam zu lesen oder zu schauen sein, ich bezweifele aber, dass Leserinnen und Zuschauerinnen dabei etwas über die politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge begreifen. Im Grunde ist man hier auch gar nicht so weit von der oben beschriebenen popkulturellen Ikonisierung und Chiffrierung entfernt.
Ich kenne eigentlich nur eine einzige relativ klassische erzählerische Aufbereitung des Themas Terrorismus, die der Heroisierungsfalle entkommt: die fünfstündige (ja, richtig gelesen: fünfstündige) Kinofassung von Carlos – Le prix du Chacal von Olivier Assayas. Hier ist die Länge wirklich der ausschlaggebende Faktor: Der Film hat dadurch genug Platz, das Kleinklein des terroristischen „Alltags“ auszubreiten, und die zunehmende Müdigkeit und die körperliche Anstrengung beim Schauen verhindern sehr wirksam, sich mit irgendwem in diesem Film zu identifizieren. Carlos als Figur eignet sich aber sicher auch deswegen, weil seine politischen Überzeugungen eher flexibel waren.
Erzählen als politische Form
Wie man (linke) politische Themen so schreiben kann, dass daraus nicht qua ästhetischer Form eine Erzählung wird, die die Verhältnisse indirekt gutheißt, gegen die ihre Protagonist*innen angehen und auch die Verfasserin anschreiben, darüber wird in Literaturtheorie und -wissenschaft wie in der praktischen Poetik schon seit der Oktoberrevolution gestritten. In den letzten Jahrzehnten, mit dem Triumphzug dessen, was Moritz Baßler unglücklicherweise „Midcult“ nennt (der Begriff hat eine stabil misogyne Geschichte), war diese Diskussion aber ziemlich aus dem literarischen Diskurs verschwunden. Mit dem Erfolg von Didier Eribons Rückkehr nach Reims und den zahlreichen (auto-)fiktionalen Texten zu Gender, Klasse und Racialisierung oder Ethnifizierung findet man aber nun wieder Diskussionen über die Form dieses Erzählens. Wirklich intensiv allerdings ist die Auseinandersetzung nicht. Vielleicht auch, weil die meisten dieser Texte formal dann eben doch im biographisch-realistischen Paradigma verbleiben und die dokumentarischen Elemente ihres Erzählens ordentlich getrennt vom eigentlichen Erzählerischen halten.
Stephanie Barts neuer Roman Erzählung zur Sache macht das alles nicht. Auf fast 700 Seiten erzählt sich die Sache (was diese Sache ist, ist gar nicht so leicht zu beschreiben) quasi selbst. Durch Gerichtsprotokolle, Zeitungsartikel, Geheimdienstdokumente, RAF-Texte und die Bewusstseinsströme Gudrun Ensslins und vieler weiterer Figuren des terroristisch-juristischen Komplexes: Justizbedienstete, Staatsanwälte, Zeug*innen. Zumindest wirkt es am Anfang so, als erzähle es sich selbst.
Irgendwann taucht dann aber zwischen all diesen Stimmen und Textstücken eine Stimme auf, die von außerhalb des konkreten historischen RAF-Materials spricht, aus der Gegenwart der Leserin heraus. Eine Stimme, die den Textraum für weitere Stimmen öffnet, gegenwärtige Stimmen: Arbeiter*innen des Elektronikriesen Foxconn, die sich durch Selbsttötung dem Stückzahlterror entziehen; Minenarbeiter*innen aus dem Kongobecken und Südafrika, die unter unmenschlichen Bedingungen Rohstoffe für den Westen aus der Erde wühlen; Menschen, denen der Raubbau an der Natur die Atemluft und das Trinkwasser vergiftet; Menschen, deren Menschlichkeit bis hin zu ihrer simplen Existenz vom alles kolonisierenden Kapitalismus rücksichtslos zermahlen wird – zu totem, überall neu investierbarem Gewinn. Manchmal hört man Walter Benjamin sprechen, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci. Ein Chor der Geschichte kommentiert das Geschehen. In den Träumen und Visionen von Gudrun Ensslin erscheinen die Toten vergangener revolutionärer Kämpfe, vergangener niedergeschlachteter Aufstände für ein Leben, in dem man überhaupt erst ein Mensch sein kann.
Eine revolutionäre Erzählung schaffen
Die Erinnerung an emanzipatorische, revolutionäre Kämpfe zu stiften, linke Traditionen gegen das Verschwinden unter der Content-Produktion von staatstragenden Geschichtswissenschaften und Medien überhaupt sichtbar und lesbar zu machen, Zusammenhänge aus vereinzelten Wissensstücken und Erfahrungen zu stiften, Zusammenhänge, aus denen heraus sich dann wieder neue emanzipatorische, linke, revolutionäre Zusammenhänge von Menschen bilden, um den nächsten Anlauf zur Veränderung zu nehmen und in ihrem Zusammenschluss zu einem in die Geschichte eingreifenden Kollektiv diese Veränderung schon zum Vorschein bringen, kurz: eine revolutionäre Erzählung zu schaffen – das scheint mir die Sache zu sein, um die es in Erzählung zur Sache geht.
Der Titel selbst, „Erzählung zur Sache“, ist ein Echo, eine Wiederaufnahme des Titels, den ihre Verfasser*innen der umfangreichsten Selbsterklärung der RAF gegeben haben: der Erklärung zur Sache von 1976. Man kann den Roman von Stephanie Bart als Versuch lesen, diesen langen Selbstverständigungstext der in Hamburg und Stuttgart-Stammheim in Spezialtrakten weggesperrten RAF-Kämpfer*innen überhaupt wieder für heutige Leser*innen verständlich zu machen: durch die detaillierte Rekonstruktion der konkreten historischen Situation, in der er geschrieben und in die hinein er geschrieben wurde.
Barts Textarbeit, ihr Zusammensuchen, Transkribieren, Umschreiben, Collagieren, Montieren und Imaginieren von Texten verwandelt die zu pseudo-progressiven Internet-Memes gewordene RAF zurück in hoch reflektierte politische Akteure, die sehr genaue Vorstellungen davon hatten, für was und gegen wen sie kämpften, und warum sie dabei auf Gewalt setzten. Und die noch in der Affirmation von tödlicher Gewalt als revolutionärer Methode auf die Macht der Worte setzen. Dass, wenn man die Situation nur genau, klar und konkret durchdenkt und beschreibt, daraus der revolutionäre, kämpferische Impuls gewissermaßen von selbst entsteht.
Geschichte als Gegengewalt
Eine Haltung, die im Roman in der Figur Gudrun Ensslins Gestalt annimmt. Wer hier aber einen Gudrun-Ensslin-Roman erwartet, in dem sich in forensischer Absicht über die Psyche einer württembergischen Pfarrerstochter und engagierten Literaturwissenschaftlerin gebeugt wird, der wird enttäuscht werden. Bart ist überhaupt nicht daran interessiert, einen Beitrag zum beliebten Psycho-Klischee vom „Pietismus zum Terrorismus“ zu leisten. Psychologie spielt zwar eine wichtige Rolle, aber vor allem als Kampfmittel der staatlichen Machtapparaturen.
Desinformation und Isolation sollen die Solidarität innerhalb der Gruppe der Gefangenen brechen; bei den Unterstützer*innen und Anwält*innen wird massiv Angst um die eigene Zukunft erzeugt, so dass die formal eigentlich legalen Unterstützungsstrukturen zerfallen; eine Medienkampagne formiert und inszeniert einen Volkswillen, der angeblich geschlossen die Todesstrafe für die Terroristen fordert; rechten Mobs wird regelmäßig ermöglicht lautstark vor der Haftanstalt in Stammheim zu demonstrieren, Unterstützergruppen erhalten keine Versammlungserlaubnis und werden mit der Verfolgung als kriminelle Vereinigung bedroht. Ihre Kenntnisse über diese Art der Kriegsführung, die sie sich durch das Durcharbeiten von PsyOps-Handbüchern und den Erinnerungen antikolonialer und antifaschistischer Kämpfer*innen erworben haben, ermöglicht es wiederum den RAF-Gefangenen, die eigenen Erfahrungen des psychischen und physischen Verfalls einzuordnen und darauf zu reagieren.
Gewalt in all ihren Formen, von strukturell bis zu ganz individuell und sadistisch ausgelebter Folter mit Todesfolge, gehört zwangsläufig zu der Sache, die Bart erzählend wieder zum Vorschein bringt. Mit Gewalt beginnt der Roman auch: mit dem Bombenanschlag auf das Hauptquartier der 7. US Army in Heidelberg am 24. Mai, bei dem zwei Soldaten getötet und ein Teil der IT-Infrastruktur zur Berechnung der effektivsten Art der Bombardierung Vietnams zerstört werden.
„Ostwind kommt auf mit dem Tag. Jagt durchs Neckartal, gebettet in Oden- und Pfälzerwald, fliegt mit dem Fluss, weckt im Vorbei die Altstadt auf, wirbelt an Bögen und Pfeilern von Brücken und rollt, sich nach Norden und Süden verbreitend, aus in der Rheinebene, wo der Neckar, der kanalisierte, rechts nach Norden rauf abdreht.“ (S. 11)
Was nach Heidelberger Romantik oder wie eine Hommage an den meteorologischen Beginn von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften klingt, erscheint ganz anders, wenn man am Ende des Kapitels angelangt ist. Die RAF hat den USA und ihren Verbündeten im Vietnamkrieg eine neue Front aufgezwungen, in Europa, vor der eigenen Haustüre, auf eigenem Gelände. Wir blicken, mit dem Ostwind, wie ein Bomberpilot auf sein Zielgebiet, oder wir sehen mit der Lenkelektronik einer Drohne, die 50 Jahre später über ein Gelände in Afghanistan, dem Irak oder Jemen fliegt. Von Ästhetik und Ideologie der Top-Gun-Filme sind wir trotzdem genauso weit weg wie von der Revolutionsromantik und ästhetisierender Gewaltdarstellung vieler RAF-Fiktionalisierungen, die sich mehr oder weniger diffus als links verstehen.
Gewalt als effektives Mittel der Politik
Barts Blick auf die Gewalt, die in der Erzählung zur Sache alle gesellschaftlichen Zusammenhänge durchzieht, ist extrem sachlich und konkret – auch weil die Leserin Gewalt fast immer über die Perspektive der Ausübenden oder deren Opfer wahrnimmt. Gewalt ist nie nur Selbstzweck, selbst für die Staatsorgane nicht, deren Bestimmung es ist, Gewalt auszuüben (um die Machtverhältnisse zu stützen), sondern die, die sie einsetzen oder zulassen, tun das in sehr konkreten Situationen und mit klar definierten Zielen.
Schon allein durch diese Form der Darstellung räumt der Roman mit dem liberal-parlamentarischen Kitsch auf, Gewalt sei ein unzulängliches politisches Mittel. Die Leserin erfährt, was für ein extrem effektives Mittel Gewalt sein kann, ein politisches Ziel zu erreichen. Aber Gewalt wird von Bart auch nicht mystifiziert. Nach der Lektüre ist man von eschatologischen oder dezisionistischen Hoffnungen auf die transformative Macht der Gewalt ziemlich kuriert, gerade weil man gelernt hat, wie unglaublich basal Gewaltförmigkeit für Strukturen und Beziehungen in kapitalistischen Systemen ist. Auch in einer parlamentarischen Demokratie mit dem Gewaltmonopol des Staates.
Gewalt ist nicht zuletzt deswegen so ein effektives politisches Instrument, weil sie, gerade medial herbei imaginierte und inszenierte Gewalt(erfahrung), gesellschaftliche Zusammenhänge und konkrete Zusammenschlüsse von politischen Akteur*innen verdecken, verdunkeln, verzerren und zerstören kann. Gewalt kann zwar auch Zusammenhang stärken und katalysieren, aber dafür müssen sich Leute schon gefunden, Gemeinsamkeiten erkannt, Erfahrungen miteinander gemacht und gemeinsame Ziele bestimmt haben.
Gewalt beendet, vorläufig, auch Stephanie Barts Erzählung zur Sache, mitten in der Vision Gudrun Ensslins von ihrem eigenen Tod (S. 678):
„Nicht falle ich in die Schlinge, noch bricht mir das Genick, sanft werde ich abgelassen, langsam schneidet der Strick meine Gurgel ein, höher und enger; ich hänge zum dritten Mal, während sie von mir weichen, wie sie vorher auf mich zugekommen sind, mich eingekreist haben, gehen sie jetzt zurück und weg und verlassen die Zelle und lösen sich auf, und ich bin allein mit Andreas. Unter der Decke. Für immer. Uns fällt ein, dass sie uns werden begraben müssen, wir freuen uns, dass das Begräbnis Widerstand entfalten wird, unter die Erde bringen, auf die ich meine Füße nicht mehr gekriegt habe, und ich“
Stephanie Bart: Erzählung zur Sache, Secession Verlag, Berlin, 2023.
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Zur Autorin
Christina Dongowski (sie/ihr, they/them) ist Kunsthistorikerin, Übersetzerin, Texterin und schreibt über Kunst und Kultur, etwa für das Online-Feuilleton 54books. Dieser Text erschien in ähnlicher Form zuerst auf ihrem Blog.
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