Lieblingsdeutschland
Wozu bekenne ich mich, wenn ich als Privatperson eine Nationalfahne hisse? Gedanken zur Frage, warum Menschen ihre Häuser beflaggen.
Text anhören (vom Autor vorgelesen):
Kürzlich las ich Frank Rudkoffskys Roman Mittnachtstraße, der von Männlichkeitsbildern im Wandel erzählt, festgemacht an einem Vater-Sohn-Konflikt. Zentraler Schauplatz ist eine Stuttgarter Kleingarten-Anlage, in der alte und junge Kleingärtner*innen über die Frage streiten, an welchen Werten sie sich als Verein zukünftig orientieren wollen. Deutschlandfahnen kommen in der Erzählung nur wenige vor, legen aber symbolhaft nahe, dass Vorsicht geboten sein könnte, wenn Privatpersonen sie hissen: „‚Ich brauch’ das hier nicht‘, sagt sie und deutet auf die flatternde Deutschlandfahne im Nachbargarten.“
Die Lektüre von Mittnachtstraße fiel mit Zugfahrten zusammen, die mich an etlichen, fest installierten Deutschlandfahnen in Schreber- und Wohnhausgärten vorbeiführten. Mir stellt sich dann immer die Frage, was eine Beflaggung privater Grundstücke ausdrücken soll: Ich bin deutsch und mein Nachbar nicht? Hier fängt das richtige Deutschland an? Zutritt nur für Weiße? Besonders skurril mag es wirken, wenn, etwa in Schrebergärten, mehrere Deutschlandfahnen auf nebeneinander liegenden Grundstücken wehen. Das kann so gelesen werden, als stünden sie im Wettbewerb miteinander: Wessen Fahne ist prächtiger, wer ist deutscher?
„Nationalstolz“ reicht mir als Antwort auf die Frage nach dem Warum nicht. Das Wort wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Auf welche Teile einer Nation, auf welche Teile vom Gebilde Deutschland ist man hier konkret stolz? Oder, anders gefragt, auf welches der vielen Deutschlands? Auf das Grundgesetzdeutschland? Auf das Willkommensdeutschland, das Geflüchtete aufgenommen hat? Auf das Ehrenamtsdeutschland, ohne das vieles zusammenbrechen würde? Oder ist man stolz auf jenes Deutschland, das marginalisierte und rassifizierte Mitbürger*innen oft „Kaltland“ nennen? Das möglicherweise einen Familienvater abschiebt, der seit über 30 Jahre hier lebt? Das ein, in den Augen vieler, durch (man muss leider sagen: unter anderem) Rassismus, Klassismus und Armutsdiskriminierung geprägtes Land ist?
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Vielleicht wissen Menschen, die privat Schwarz-Rot-Gold hissen, um all diese Widersprüche und Gleichzeitigkeiten, haben sie für sich akzeptierbar ausverhandelt und glauben, alles mit dem Klebstoff Patriotismus, per Flagge zur Schau gestellt, zusammenbringen zu können. Das alles ist Deutschland – und ist gut so? Die grundsätzliche Frage ist doch: Was heiße ich gut, wenn ich als Privatperson auf meinem Privatgrundstück eine Nationalflagge hisse? Was stelle ich zur Schau, wozu bekenne ich mich, was ziehe ich mit hoch? Welche Zustände, Probleme und Werte eines Landes, nicht nur die offiziellen, auch die systemisch alltäglich praktizierten, etwa in Asylfragen, hängen mit am Fahnenmast?
Ich wünschte, unten am Mast gäbe es immer eine Plakette, eine Fußnote, die erklärt, warum die Fahne dort hängt, was sie ausdrücken soll, welches Deutschland hier für gut befunden wird. Für mich wäre das auch ein Hinweis, ob ich das Haus betreten will. Eine Art Vorsicht-vor-dem-Hund-Schild. Vorsicht vor dem Deutschland, das hier gewollt wird, das hier lauert. Ehrlicherweise müsste an vielen Masten nämlich eine andere Fahne hängen, die der AfD etwa – oder irgendwas mit Schwarz-Weiß-Rot.
Immer im Dienst
Allerdings bin ich durch eigenes Flaggenhissen vorgeprägt. Während meiner Bundeswehrzeit habe ich dann und wann, als Teil der Wachmannschaft, die Bundesdienstflagge am Fahnenmast der Kaserne gehisst und niedergeholt, oder stand stramm, als Kamerad*innen mit der Aufgabe betraut waren. „Flaggenparade“ hieß das damals, auch wenn es keine Parade im eigentlichen Sinne war, sondern bloß ein kurzer Akt. Ich weiß noch, wie wir beim Falten und Tragen der Flagge aufzupassen hatten, dass sie nicht den Boden berührt, wenn sie zwischen Flaggenmast und Wachgebäude pendelte. Sie hing ja nicht immer. Bei Privatflaggen scheint mir allerdings oft, sie tun genau das, sie hängen immer, auch nachts. Und das sieht man. Regen, Schnee, Hitze und der ein oder andere Vogelschiss haben ihnen zugesetzt und sie zu zerschlissenen Lappen gemacht. Wie groß ist die Liebe zum „Vaterland“, wenn sein Symbol wie ein altes Putztuch aussieht?
Es hätte ja einen gewissen Witz, würden Privatleute ihre Häuser und Hütten nur dann beflaggen, wenn sie auch vor Ort wären, als Präsenzanzeiger; wie es etwa bei britischen Monarch*innen der Fall ist, wenn sie auf ihren Schlössern sind. Aber müssen es dafür gleich Nationalflaggen sein, sind eigene, persönliche nicht besser?
Also, Flaggenhisser*innen, holt doch die Deutschlandfahnen ein und bastelt euch eigene Fahnen für eure Häuser und Hütten. Sonst könnten Leute das Gefühl haben, ihr seid immer im Dienst, für euer Lieblingsdeutschland. Und das ist vielleicht zum Fürchten. ◆
Zum Autor
Oliver Pöttgen (er/ihm) ist froh, heute nicht mehr hinter Nationalfarben hermarschieren zu müssen; er hat ja schon Schwierigkeiten damit, T-Shirts zu tragen, auf denen Hersteller-Logos übergroß zu sehen sind.
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